Dienstag, 12.7.2022, Friedrich Orter

Ein ungutes Jahr für Juden in Österreich

Zum 100. Geburtstag von Georg Kreisler. „Das Jahr 1938 war ein besonders ungutes für Juden in Österreich. Ich musste Jude üben statt Klavier“, schreibt Kreisler in seinem Buch „Lola und das Blaue vom Himmel“.

Als Sechzehnjähriger kann Georg Kreisler mit seinen Eltern vor den Nationalsozialisten nach Kalifornien fliehen. „Die Optimisten endeten in Auschwitz, die Pessimisten in Beverly Hills“, reflektiert Kreisler selbstironisch. Ein Cousin in Hollywood hilft ihm, Kreisler erlernt die englische Sprache, finanziert als Barpianist den Lebensunterhalt, auch den seiner Eltern, verkehrt in Exil-Künstlerkreisen, lernt Schönberg, Eisler und die Dietrich kennen, an die er sich als Kekse backende Hausfrau erinnert.

Friedrich Orter
ist Journalist und Autor

Als Zwanzigjähriger wird er als US-Soldat einer Spezialeinheit zugeteilt, die auf Verhöre von deutschen Kriegsgefangenen trainiert wird. Einer seiner Kameraden war der spätere Opernführer der Nation Marcel Prawy. In diesem nach einem ehemaligen US-Gouverneur benannten Camp Ritchie wurden Soldaten ausgebildet, den Feind mit nichtmilitärischen Mitteln zu bekämpfen. Die US-Militärs waren zur Einsicht gelangt, dass psychologische Kriegsführung ebenso wichtig ist wie militärische Erfolge auf dem Schlachtfeld. Dafür waren die deutschsprechenden jungen Exilanten bestens geeignete Rekruten. Als Verhörspezialist spricht Kreisler nach Kriegsende mit Nazi-Größen wie Göring, Kaltenbrunner und dem berüchtigten antisemitischen Hetzer Julius Streicher. Seine Begegnung mit Streicher ist so makaber, dass sie nicht einmal von einem Kreisler hätte erfunden werden können. Der ehemalige Stürmer-Herausgeber sagte dem vernehmenden US-Soldaten Kreisler zum Abschied: „Sie waren ja nett zu mir. Aber die Juden haben mir sehr zugesetzt.“

Die Pessimisten in Beverly Hills

Ein Schicksalsgenosse Kreislers, George Tabori, hat einmal geschrieben, „die Wunde versteht das Messer“. Und ich möchte ergänzen: aber das Messer versteht die Wunde nicht. Das Unsagbare der Shoa, die Landschaften des Todes, die Ausgrenzung der Erinnerung verdichtet Kreisler in vier Zeilen: „Bayern, Hessen, Schleswig-Holstein /Bockwurst, Bier und Brüder Grimm Mandelbaum und Kohn und Goldstein/ Schlummern tief in Oswiecim.

Die Rückkehr nach Wien, wo er in den 1950er Jahren dann Karriere machte, war für Kreisler keine Heimkehr. Er wagte es lange nicht, die Wohnung aufzusuchen, aus der er mit seiner Familie vertrieben worden war. In den Wohnungen und Geschäften der Vertriebenen und Ermordeten hatten es sich die Täter und Arisierer gemütlich gemacht.

„Und ich grüße ebenso den Frisörgehilfen Navratil/
Der auch in der SS war – oder war es die SA?/
Einmal hat er angedeutet, während er mir die Haare schnitt/
Was damals in Dachau mit dem Rosenblatt geschah/
Er war erst zwanzig – zwölf Jahre jünger als der Rosenblatt/
Jetzt ist er fünfzig und ein sehr brauchbarer Frisör/
Grüß Gott, Herr Hauptmann! Der heißt nur Hauptmann/
Er war Oberst und hat in Frankreich einige zu Tode expediert/
Er ist noch immer Spediteur/ Es hat sich nichts geändert.“

Literaturhinweise:

  • Georg Kreisler: Alles hat kein Ende, Arco Verlag 2004
  • Georg Kreisler: Lola und das Blaue vom Himmel, Edition Memoria 2002
  • Georg Kreisler: Letzte Lieder, Arche Literaturverlag 2009
  • Hans-Juergen Fink und Michael Seufert: Georg Kreisler gibt es gar nicht, Fischer Verlag 2005
  • Georg Kreisler: Doch gefunden hat man mich nicht, Atrium Verlag 2014
  • Georg Kreisler: Seltsame Gesänge, dtv-Verlag 1964
  • Robert Lackner: Camp Ritchie und seine Österreicher, Böhlau Verlag 2020