Mittwoch, 13.7.2022, Friedrich Orter

„Die Wirklichkeit ist ein Märchen“

Zum 100. Geburtstag von Georg Kreisler. „Die Wirklichkeit ist ein Märchen“, ein Kreisler-Satz, der mich an einen alten Kalenderspruch erinnert: „In Wirklichkeit ist die Realität ganz anders.“

Was Wirklichkeit und Wahrheit anlangt, diese Frage hat Kreisler, so scheint es mir, ein Leben lang beschäftigt. Und er kam zum Schluss: „Es gibt viele Wirklichkeiten und nur eine Wahrheit. Unsere Wirklichkeit liegt in der Kunst, aber das kann man nicht beweisen.“ In diesem Sinne erinnert er mich an Heinrich von Kleist, der seiner Verlobten 1801 – also lange vor Kreisler – schrieb: „Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es nur uns so scheint.“

Ich bin kein Philosoph, aber als Journalist stelle ich mir die Frage bei der Interpretation der Nachrichtenlage im Zeitalter von Fake News, Deepfakes und der sogenannten Lügenpresse täglich. Halten wir das für wahr, was unserem Weltbild entspricht, was unsere Vorurteile bestärkt? Gibt es so etwas wie unumstößliche Fakten überhaupt? Nur weil etwas als wahr gilt, heißt es ja nicht, dass es für immer so sein muss. Solche Fragen sind allerdings Wasser auf den Mühlen aller Verschwörungstheoretiker. Die Mondlandung war ein Fake, Impfen macht unfruchtbar. Und an allem sollen natürlich die Juden schuld sein.

Friedrich Orter
ist Journalist und Autor

In der Wirklichkeit gibt’s nie Beweise

Auch Kreisler, der sich zu seinem Judentum immer bekannt hat, stellt sich in einem seiner vielen Bücher die Frage: „Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten?“ – Eine Lebensbilanz mit epikureisch-stoischer Einsicht, dass ja niemand wissen kann, wer er wahrhaftig wirklich ist. Aber Kreisler glaubte aus seiner Lebenserfahrung eines zu wissen: „Jeder Mensch ist ein Flüchtling. Wer Zuhause bleibt, flüchtet vor der Realität.“ Und ich würde im Sinne Kreislers ergänzen: Unter der Oberfläche der Wirklichkeit lauert das Unsagbare.

„Denn der Mensch will immer was beweisen/
Im Gegensatz zur Gans/
Doch er kann´s nicht und er wird entgleisen/
Solang er glaubt, er kann´s/
In der Wirklichkeit gibt’s nie Beweise/
Denn die Wirklichkeit, die ist wahr./
Kommt mit mir auf eine wahre Reise/
Voller Traum und ohne Kommentar/
In der Wirklichkeit sind die Träume/
Die kein Physiker je beschreibt/
Kommt mit mir in meine Zwischenräume, wo kein Mensch die Wahrheit übertreibt/
Kommt mit mir auf meine Purzelbäume, wo von Wissenschaft nichts übrig bleibt.

Literaturhinweise:

  • Georg Kreisler: Alles hat kein Ende, Arco Verlag 2004
  • Georg Kreisler: Lola und das Blaue vom Himmel, Edition Memoria 2002
  • Georg Kreisler: Letzte Lieder, Arche Literaturverlag 2009
  • Hans-Juergen Fink und Michael Seufert: Georg Kreisler gibt es gar nicht, Fischer Verlag 2005
  • Georg Kreisler: Doch gefunden hat man mich nicht, Atrium Verlag 2014
  • Georg Kreisler: Seltsame Gesänge, dtv-Verlag 1964
  • Robert Lackner: Camp Ritchie und seine Österreicher, Böhlau Verlag 2020