LEBENSKUNST, 24.7.2022, Pater Karl Schauer

Bibelessay zu Lukas 11, 1-13

Vor Gleichgültigkeit bewahrt das Vater Unser

„Herr, lehre mich beten!“ – das ist meine große Bitte, mit der ich mich und andere zum Beten ermutige. Das „Vater Unser“ gehört zur Grundausstattung meines Gebetsschatzes, ich habe dieses Gebet schon gesagt, bevor ich in die Schule kam, wir haben es zuhause beim Tischgebet geleiert und ich war fasziniert, als ich es in allen Sprachen dieser Welt auf den Keramiktafeln der „Pater Noster – Kirche“ in Jerusalem lesen konnte. Dieses einfache Gebet ist für mich nie abgebetet, keine Floskel. Es hilft mir, die großen Fragen meines Lebens und dieser Welt zu benennen, diesen Aktualität zu geben, und Gott trotz meiner Fragen das Du-Wort nicht zu entziehen.
Jesus war kein Literat, er hat wahrscheinlich keine Gebete geschrieben, er hat das Erbe der jüdischen Gebetstradition gelebt und Gott in das Leben der Menschen hineinbuchstabiert. Sein letztes Wort am Kreuz war ein Aufschrei, das Gebet mit einem Fragezeichen, seine Ohnmacht, mit Gott nicht fertig zu sein.

Pater Karl Schauer
ist Bischofsvikar der Diözese Eisenstadt, und Konventual der Abtei St. Lambrecht

Hilft beten? Darauf kann ich keine Antwort geben. Lehrt Not beten? Vielleicht – aber Not lehrt auch fluchen. Überwindet das Gebet Angst und Verzweiflung, den Hunger, das Elend und die Armut, Einsamkeit und Verlorenheit, den Krieg und alle Verbrechen des Lebens, meine eigene Hoffnungslosigkeit und den lauten Schrei dieser aufgeriebenen Welt? Ich weiß es nicht, und Gott, zu dem ich bete, blieb mir bisher eine Antwort schuldig.

Dietrich Bonhoeffer, 1945 von den Nazis im KZ ermordet, schrieb während seiner Haft: „Christliches Beten schützt nicht vor Kummer und Verzweiflung, wohl aber bewahrt es vor Gleichgültigkeit.“ Diese Erfahrung eines zum Tode Geschundenen muss wahrscheinlich jede Beterin, jeder Beter machen. Gott ist kein Lückenbüßer, der immer dort einspringt, wo die intellektuellen und praktischen Kräfte des Menschen nicht mehr ausreichen. Gott ist auch keiner, der sofort löscht, wenn es brennt.

Lebenskunst
am Sonntagmorgen, 24.7.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Im Gebet wächst der Mensch über sich hinaus, diese Erfahrung mache ich immer wieder, er ahnt, wer Gott ist und wer der Mensch ist. Gebet hat auch mit der Radikalisierung der Gottesfrage und des Menschenbildes zu tun. Betende wissen, dass das Gebet zu einer Quelle werden kann, wenn mitmenschliche Beziehungen ausgetrocknet sind, kein Vertrauen mehr da ist, wenn Angst, Misstrauen, Verzweiflung, Not sich in das Leben eingeschlichen haben.

In ihrem Buch „Im Hause des Menschenfressers. Texte zum Frieden“ appellierte die Theologin und Schriftstellerin Dorothee Sölle: „Und liebe nichtchristliche Leser, natürlich hilft beten. Seid doch nicht so blind, das hat mit uns selber, unseren Wünschen zu tun, die wir nicht eintauschen gegen den Dreck, den sie uns ständig anbieten. Natürlich hilft beten und sich eins wissen mit der Macht, die dem Grashalm durch den Asphalt hilft.“

Im Gebet vollzieht sich die Aussöhnung des Menschen mit den Trümmern seiner eigenen
Vergangenheit, möchte ich hinzufügen. Das Gebet befreit vom selbstverliebten Kreisen um das eigene Ich, es bricht vergrabene Fähigkeiten auf und macht den Menschen groß. Solange der Mensch betet, gibt er sich nicht auf! Und wie der Mensch betet, so lebt er auch!
Beten ist nicht kompliziert, nicht abstrakt oder lebensfremd. Beten ist ganz einfach, es kann gelernt und auch verlernt werden. Miteinander reden, einander begegnen, füreinander da sein, das geht nur, wenn ich es tue und übe. Beten ist trotz allen Stotterns eine Sprache der Liebe.

Für mich gilt: Gott sei Dank gibt es die großen Lehrmeisterinnen und Lehrmeister des Betens in der langen Geschichte der Menschheit. Und Gott sei Dank gibt es immer noch die Mutigen, die nicht müde geworden sind, mit Gott ins Gespräch zu kommen. Und ich bin überzeugt, ein Leben ohne Gebet bleibt dürftig und leer.