Donnerstag, 4.8.2022 Dominik Barta

Wenn die Nähe zum Hindernis wird

Räumliche Nähe kann die Sympathie befördern. Zwischen zwei Fremden reicht es manchmal, dass sie sich auf Tuchfühlung miteinander erleben (z.B. im Zug oder in der U-Bahn), um eine Art Vertrauen entstehen zu lassen.

In diesem Fall ist körperliche Nähe ein guter Nährboden für Verständnis und Aufmerksamkeit. Leider kann „Nähe“ aber auch den umgekehrten Effekt haben: Sie kann Aufmerksamkeit und Verständnis nachgerade verhindern. Darum weiß die großartige polnische Dichterin und Literaturnobelpreisträgerin Wyslawa Szymborska, die eines ihrer Gedichte mit dem Satz beginnen lässt: „Jestem za blisko, zeby mu sie snic.“ – „Ich bin zu nah, als dass er von mir träumte.“ Im Gedicht heißt es weiter: „Ich bin zu nah, um einzutreten wie ein Gast, vor dem die Wände sich gleich öffnen.“ Und weiter: „Ich bin zu nah, um ihm vom Himmel in den Schoß zu fallen.“

Dominik Barta
ist Schriftsteller

Ich bin zu nah, als dass er von mir träumte

Szymborskas Gedicht beschreibt, so denke ich, eine intime Situation, vielleicht das Ende einer Liebesszene. Nachdem man sich so nah gekommen ist, wie zwischen zwei Menschen nur irgend möglich, schlägt körperliche Nähe aber traurigerweise in eine Art Blindheit um. Nun ist man sich „zu nahe“ und man nimmt gerade den nicht mehr zur Kenntnis, der einem am dichtesten vor Augen steht. Aus Überdruss? Aus Selbstschutz?

Wie dem auch sei: in Szymborskas intimer Szene wird Nähe zum Hindernis. Man sieht sich nicht mehr, weil man sich zu nahe gekommen ist.

Literaturhinweise

  • Dominik Barta: Vom Land. Zsolnay 2020
  • Dominik Barta: Tür an Tür. Zsolnay 2022
  • Szymborska, Wislawa: Hundert Gedichte – Hundert Freuden. Ausgewählt, übertragen und mit einem Nachwort von Karl Dedecius. Krakow: Wydawnictwo Literackie 1997, S. 80-81