Freitag, 5.8.2022 Dominik Barta

Die feinen Grenzen

Nicht nur das intime, zwischenmenschliche Dasein kennt ein „Zu-Viel“ an Nähe. Generell profitiert die menschliche Gesellschaft davon, wenn bei aller Nähe und Nachbarschaft immer wieder die feinen Grenzen erkennbar werden, durch welche wir voneinander getrennt sind.

Kaum eine gesunde Nähe ist so total und überwältigend, dass sie nicht auch einen Hauch Abstand und Spielraum eingebaut hätte. Wenn wir zum Beispiel in der U-Bahn dicht gedrängt nebeneinander stehen und die Nähe des anderen buchstäblich aufdringlich wird, dann gibt es trotzdem immer noch Strategien, wenigstens ein Minimum an Distanz walten zu lassen: Ich vermeide dann jede weitere Bewegung, um so die Berührungsflächen mit dem Nächsten minimal zu halten. Ich höre auf zu sprechen, um den anderen nicht auch noch mit dem Atem zu berühren oder ich spanne die gesamte Körpermuskulatur an, um möglichst von innen heraus die Kontrolle über meinen Körper zu behalten.

Dominik Barta
ist Schriftsteller

Gute Zäune machen gute Nachbarn

Grundsätzlich gilt: Solange ich praktische Distanzierungs-Strategien kenne, kann ich gut mit Nähe umgehen. Viele Menschen haben kein Problem damit, ganz dicht nebeneinander zu leben, solange es ihnen möglich ist, inmitten der engsten Nähe ein Stück weit Distanz zu wahren. Der amerikanische Dichter Robert Frost hat diese aufschlussreiche, politische Tatsache im Gedicht „Mending Wall“ in der berühmten Zeile verdichtet: „Good fences make good neighbours.“ — „Gute Zäune machen gute Nachbarn.“

Literaturhinweise

  • Dominik Barta: Vom Land. Zsolnay 2020
  • Dominik Barta: Tür an Tür. Zsolnay 2022
  • Poetry Foundation