Kaum eine gesunde Nähe ist so total und überwältigend, dass sie nicht auch einen Hauch Abstand und Spielraum eingebaut hätte. Wenn wir zum Beispiel in der U-Bahn dicht gedrängt nebeneinander stehen und die Nähe des anderen buchstäblich aufdringlich wird, dann gibt es trotzdem immer noch Strategien, wenigstens ein Minimum an Distanz walten zu lassen: Ich vermeide dann jede weitere Bewegung, um so die Berührungsflächen mit dem Nächsten minimal zu halten. Ich höre auf zu sprechen, um den anderen nicht auch noch mit dem Atem zu berühren oder ich spanne die gesamte Körpermuskulatur an, um möglichst von innen heraus die Kontrolle über meinen Körper zu behalten.
Dominik Barta
ist Schriftsteller
Gute Zäune machen gute Nachbarn
Grundsätzlich gilt: Solange ich praktische Distanzierungs-Strategien kenne, kann ich gut mit Nähe umgehen. Viele Menschen haben kein Problem damit, ganz dicht nebeneinander zu leben, solange es ihnen möglich ist, inmitten der engsten Nähe ein Stück weit Distanz zu wahren. Der amerikanische Dichter Robert Frost hat diese aufschlussreiche, politische Tatsache im Gedicht „Mending Wall“ in der berühmten Zeile verdichtet: „Good fences make good neighbours.“ — „Gute Zäune machen gute Nachbarn.“
Literaturhinweise
- Dominik Barta: Vom Land. Zsolnay 2020
- Dominik Barta: Tür an Tür. Zsolnay 2022
- Poetry Foundation