Lebenskunst 7.8.2022, Johannes Modeß

Bibelessay zu Markus 12, 41-44

„Ich kann dem Team nichts vorwerfen, sie haben alles reingeworfen“ sagte ÖFB-Teamchefin Irene Fuhrmann nach dem EM-Aus der Österreicherinnen gegen Deutschland vor gut zwei Wochen. Alles reingeworfen, alles gegeben, aber es hat nicht gereicht. Ein Gefühl nicht nur für den Fußballplatz – immer wieder begegnen mir Menschen mit dieser Lebenserfahrung.

Der junge Vater, der mit Tränen in den Augen die Scheidungsunterlagen unterschreibt, flüstert diese Worte seinem Kind zu; die Studierenden, die monatelang auf ihre Prüfungen lernen und alles daran setzen, dass es klappt, sagen diese Worte zu sich selbst: alles gegeben, alles reingeworfen, aber es hat nicht gereicht.

Der soeben gehörte Bibeltext erzählt von einer Frau, die dieses Gefühl wahrscheinlich kennt. Auch sie hat alles reingeworfen. Alles, was sie hatte. Aber anders als im Fußballspiel scheppert hier kein Aluminium, wenn der Ball an die Latte und nicht ins Tor geht – hier fallen leise zwei kleine Münzen aus Kupfer, Lepta genannt, in den Opferkasten.

Johannes Modeß
ist evangelischer Theologe und Pfarrer in der Lutherischen Stadtkirche in Wien

Alles gegeben – und es hat gereicht!

Ignaz Dullinger malte 1836 die Szene als Ölgemälde. Da gibt es große Augen, die auf die kleinen Münzen herabschauen, gerunzelte Stirnen und missmutige Blicke vonseiten der Jünger und der Reichen. Gesichter, die der Witwe zu sagen scheinen: Das reicht doch nicht!

Aber der entscheidende Blick auf die Witwe und ihre Spende urteilt da anders – und entlarvt damit die verurteilenden Blicke als falsch. Jesus von Nazareth zeigt auf die Witwe, macht aus ihr ein gutes Beispiel: Sie hat es richtig gemacht. Sie hat alles reingeworfen – und das reicht! Im Text leitet er sein Urteil mit den Worten „Amen ich sage euch“ ein. Damit will der Verfasser des Markus-Evangeliums zeigen, dass Jesus in der Sache das letzte, gültige Wort hat. In ihm spricht sich nach christlicher Überzeugung das Urteil Gottes aus.

Lebenskunst
Sonntag, 7.8.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Nach der Lehre Martin Luthers leben Menschen in zwei grundlegenden Beziehungssystemen. Einerseits in Beziehung zu ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt, andererseits in Beziehung zu Gott.

Die Witwe erfährt am eigenen Leib, was das bedeutet: Die Stimmen und Blicke der Mitmenschen sagen: Du hast alles reingeworfen – und es reicht nicht. Wie es eben Mitmenschen und auch wir selbst so oft zu uns sagen. Jesus hält in Wort und Blick dagegen: Du hast alles reingeworfen – und das reicht.

Jesus zeigt in der Geschichte die Gesetze einer anderen Welt, die er Reich Gottes nennt. Hier reicht es, alles zu geben, hier muss niemand mehr leisten als möglich. Wer die Sehnsucht nach einer solchen Welt teilt, kann ihr Ausdruck verleihen durch Widerspruch. Widerspruch ist angesagt, wo Menschen verurteilt werden, die alles gegeben haben. Sätze wie „Ich kann dem Team nichts vorwerfen, sie haben alles reingeworfen“ sind da meiner Ansicht nach ein guter erster Schritt.