Lebenskunst 16.10.2022, Gerhard Langer

„Verschaff mir Recht!“ – Bibelessay zu Lukas 18, 1–8

Jesus liebte Gleichnisse. Was ist das Besondere an Gleichnissen? Erstens kann man durch sie in einer für alle verständlichen Sprache sprechen, den Alltag einfließen lassen, komplizierte Sachverhalte einfach erklären. Und zweitens ist es darin möglich, auch über Gott mit offenen Worten zu sprechen, Kritik zu üben, Unverständnis auszudrücken und Protest.

Genau dies geschieht auch hier. Das Gleichnis vom ungerechten Richter ist geradezu ein Paradebeispiel für eine gewagte Gotteskritik. Ein Richter soll gerecht und unparteiisch sein, und vor allem soll er niemanden bevorzugen, der reicher oder mächtiger ist als andere. Witwen zählen nicht nur in antiken Kulturen zu den Armen, den am meisten Schutzbedürftigen. Ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen, wurde schon im alten Israel als Pflicht angesehen, sie zu unterstützen gehörte zu den wichtigen Verhaltensregeln, die immer wieder mit Nachdruck gelehrt wurden.

Gerhard Langer

ist katholischer Theologe und Professor für Judaistik an der Universität Wien

Das Schreien zu Gott war ein Ausdruck der Verzweiflung

Der Richter wird als jemand geschildert, der sich genau nicht an diese Normen hält, die auf Gottes Recht zurückgeführt und von den Menschen gleichermaßen als richtig erkannt wurden. Nur ihre Hartnäckigkeit, die ihm Angst macht, ja sogar die Furcht vor von ihr angewandter Gewalt bewirken erst ein Umdenken und lassen ihn sich ihrer Sache annehmen.

Dieser Richter im Gleichnis ist zweifellos Gott. Nur im Gleichnis konnte man es wohl wagen, ihn selbst als gottlos und ungerecht zu bezeichnen. Offen ausgesprochen wäre dies dazumal wahrscheinlich einer Blasphemie gleichgekommen. So aber wird ihm von Jesus bzw. der Gemeinde, die sich auf Jesus von Nazareth beruft, ein Spiegel vorgehalten. Bist du, Gott, von dem die Bibel spricht, nicht ungerecht, wenn du unser Schreien nicht hörst? Das Schreien zu Gott war bereits im Alten oder Ersten Testament ein Ausdruck der Verzweiflung in tiefster Not. Dort aber heißt es etwa während der Sklaverei der Israeliten in Ägypten, dass Gott dieses Schreien gehört hat.

Lebenskunst
Sonntag, 16.10.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Ein offenes Wort zu reden

Genauso meint die jesuanische Gemeinde, wird Gott auch ihr Schreien hören und Gerechtigkeit schaffen. Im Text wird hier ein im Judentum häufiger hermeneutischer Schluss vom Leichteren auf das Schwerere angewandt. Das bedeutet: Wenn schon im Falle der Witwe, die mit Gewalt droht, der Richter, also Gott, ein Einsehen hat und sich ihr zuwendet, um wie viel mehr müsste er es in Bezug auf eine Gemeinde tun, die sich immer loyal und voller Verehrung diesem Gott gegenüber benommen hat. Wäre es nicht logisch, dass Gott hier schnell reagiert?

Dieser kleine Abschnitt zeigt, dass es schon in den Anfängen des Christentums Ängste und Sorgen gab, dass Gott ungerecht und unaufmerksam sein könnte. Sieht man heute auf Texte wie diese, so können sie dazu ermutigen, vor Gott nicht feige oder duckmäuserisch zu sein. Wenn man sich als gläubiger, religiöser Mensch an Gott wendet, ist es legitim, mit ihm auch ein offenes Wort zu reden, ihn kritisch zu befragen und auch einmal den Frust von der Seele zu sprechen. Ob es dafür ein Gleichnis braucht, sei dahingestellt.