Lebenskunst 30.10.2022, Martin Jäggle

Bibelessay zum Buch der Weisheit 11, 22 – 12, 2

Bibeltext:

Herr,
11,22 die ganze Welt ist ja vor dir wie ein Stäubchen auf der Waage,
wie ein Tautropfen, der am Morgen zur Erde fällt.

23 Du hast mit allen Erbarmen, weil du alles vermagst,
und siehst über die Sünden der Menschen hinweg,
damit sie umkehren.

24 Du liebst alles, was ist,
und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast;
denn hättest du etwas gehasst,
so hättest du es nicht geschaffen.

25 Wie könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben
oder wie könnte etwas erhalten bleiben,
das nicht von dir ins Dasein gerufen wäre?

26 Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist,
Herr, du Freund des Lebens.

12,1 Denn in allem ist dein unvergänglicher Geist.

2 Darum bestrafst du die Sünder nur nach und nach;
du mahnst sie und erinnerst sie an ihre Sünden,
damit sie sich von der Schlechtigkeit abwenden
und an dich glauben, Herr.
Weish 11, 22 – 12, 2

Martin Jäggle

ist katholischer Theologe und Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit

Die ganze Welt ist erfüllt vom Geist der Liebe.

So könnte der soeben gehörte poetische Text aus dem biblischen Buch der Weisheit überschrieben werden. Der sagenhaft weise König Salomon gilt als Verfasser des jüngsten Buches des Ersten Testamentes, das traditionell Altes Testament genannt wird. Der Text richtet sich wie ein Gebet an Gott, das unsagbare Geheimnis allen Lebens: „Du liebst alles, was ist, / und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast.“ Und weiter heißt es: „Du schonst alles“. Diese Liebe und Sorge führen zum Namen „Du Freund des Lebens.“ Diese Hymne endet zunächst mit dem Bekenntnis: „Denn in allem ist dein unvergänglicher Geist.“

Solche Worte voll Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit für die Welt und die Menschen lassen mich verstehen, warum in Lateinamerika Christinnen und Christen Umweltverletzung nennen, was in Europa zumeist bloß Umweltverschmutzung genannt wird. Die zärtliche, liebevolle Beziehung des „Freundes des Lebens“ macht die Welt kostbar, erfüllt von Liebe.

Lebenskunst
Sonntag, 30.10.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Doch gegen Ende des gerade gehörten Bibeltextes steht ein irritierender Satz: „Darum bestrafst du die Sünder“. Für moderne Menschen einer Zeit, in der körperliche und psychische Bestrafung nicht nur von Kindern verboten ist, ist die Rede von einem strafenden Gott nicht nachvollziehbar. Zwar fährt hier Gott nicht mit Blitz und Donner dazwischen, sondern straft „die Sünder nur nach und nach“, aber trotzdem gehört das Bild eines Zusammenspiels von Liebe und Strafe einer vergangenen Zeit an, zu nah ist es an schwarzer Pädagogik und der oft verwendeten Begründung „Du wirst es mir einmal danken.“

Das Anliegen, um das es geht, lautet freilich dem griechischen Urtext gemäß wörtlich: „du mahnst sie und erinnerst sie an ihre Sünden, / damit sie sich von der Schlechtigkeit abwenden.“ Die Folgen schlechter Taten fallen auf den Übeltäter zurück. Das ist mit „Strafe“ gemeint und auch sich schmerzhaft den Folgen der Taten stellen zu müssen.

Letztlich geht es im eben gehörten Text um umdenken, um umkehren, darum, der Liebe zu vertrauen und gerecht zu leben. Das ganze Buch der Weisheit ist eine Aufforderung zu einem Leben in Gerechtigkeit.