Lebenskunst 1.1.2023, Michael Chalupka

Bibelessay zu Lukas 4,16-21

Jesus war ein frommer Jude. Er kam aus einer gläubigen jüdischen Familie. Besonders beim Evangelisten Lukas wird das deutlich. Jesus tut, was fromme Juden am Sabbat, hebräisch: Schabbát, tun. Er geht in die Synagoge.

Es ist ein bemerkenswerter Auftritt. Jesus kommt, voll des Heiligen Geistes, nach Galliläa. Nach den Anfängen seines Wirkens in Kapernaum kommt er zurück in seine Heimatsstadt. Viele kennen ihn noch aus seiner Jugend. Er wird aufgerufen, um aus der Thora zu lesen. Es wird ihm die Schriftrolle des Buches Jesaja gereicht, und er rezitiert aus dem 61. Kapitel, wie er es gelernt hat. „Der Geist des Herrn ist auf mir…“

Michael Chalupka
ist Bischof der evangelischen Kirche A.B. in Österreich

Die Zerschlagenen in die Freiheit entlassen

Wir wissen nicht, ob die Zuhörer im Synagogengottesdienst diesen Satz auf Jesus bezogen haben, oder ihn als das gehört haben, was er ist, als Wort des Propheten Jesaja, der Jahrhunderte vor Jesus gewirkt hat. Der Evangelist Lukas stellt Jesus jedenfalls in das Licht des allen bekannten Prophetenwortes. Nachdem Jesus die Schriftrolle geschlossen und dem Synagogendiener übergeben hat, setzt er zur Predigt an. Man kennt ihn in Nazareth und ist gewiss gespannt. Und die Predigt schlägt ein. Sie besteht aus einem einzigen Satz: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“

Die Reaktionen auf diese Predigt sind heftig. Die einen spenden Beifall und sprechen von der Gnade seiner Worte, die anderen werden wütend angesichts der Anmaßung, die sie aus seinen Worten herausspüren. Und als er ihnen dann auch noch sagt: “Kein Prophet ist willkommen in seinem Vaterland“, nehmen sie es wörtlich und werfen ihn, das Kind der Stadt, aus Nazareth hinaus.

Lebenskunst
Sonntag, 1.1.2023, 7.05 Uhr, Ö1

Heute!

Warum die heftigen Reaktionen? Das liegt im Wesen der Prophetie, dessen Kern Jesus mit einem einzigen Wort offenbart. Mit dem Wort: Heute! „Prophetie“, das bedeutet, Botschaften einer Gottheit – oder in dem Fall: des Gottes der Bibel – zu vermitteln; Propheten und Prophetinnen tun das. Mit der Prophetie lässt es sich angenehm leben, wenn sie als überkommenes Wort immer wieder rezitiert und dann im Schrank der Tradition verwahrt wird. Genauso gut lässt es sich mit ihr leben, wenn sie in eine Zukunft weist, die irgendwann eintritt.

Doch Jesus sagt: Heute. Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt. Prophetie wird konkret, wenn sie Bedeutung im Heute erlangt. Hier und jetzt. Wenn sich heute dieses Wort der Schrift erfüllt, dann hat das Konsequenzen. Dann ist das Wort nicht Trost aus der Vergangenheit oder Vertröstung auf die Zukunft, sondern Richtschnur und Maßstab für das Leben hier und jetzt.

Gottes Wort ist – wie es im Hebräerbrief heißt, „lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.“ Daran wird jede Rede von Gott gemessen. Wird den Armen das Evangelium verkündet und wird die Botschaft der Freiheit deutlich. Auch Jesus selbst stellt sich unter das Wort. Und das Licht des Wortes Gottes lässt ihn erscheinen als Gottes Sohn.