Lebenskunst 15.1.2023, Gerhard Langer

Bibelessay zu Jesaja 49,3.5–6

Am 17. Jänner, also übermorgen, begehen in Österreich die Kirchen den Tag des Judentums, um auf die enge Verbundenheit des Christentums mit dem Judentum zu verweisen und zugleich auch das Unrecht an jüdischen Menschen und ihrem Glauben in der Geschichte zu thematisieren.

Dieser Jesajatext wird heute in katholischen Gottesdiensten gelesen – und er eignet sich gut, um gerade im Hinblick auf den Tag des Judentums einige Beobachtungen zu machen. Das Buch Jesaja gehört zu den wichtigsten Kompositionen der Hebräischen Bibel, des Alten oder Ersten Testaments. Die prophetischen Texte sind in mehreren Jahrhunderten entstanden und berichten vom wechselhaften Schicksal des Volkes Israel mit seinem Gott. Die Autoren verarbeiteten darin die Erfahrung, als kleines Land, bedroht von Großmächten und ihrer Willkür ausgeliefert, zu überleben und nie die Hoffnung zu verlieren, weil es auf Gott vertraut. Bei aller Gewalt, die im Buch geschildert wird, überwiegen letztlich das Vertrauen und der Trost.

Gerhard Langer
ist katholischer Theologe und Professor für Judaistik an der Universität Wien

Licht der Nationen

Ein wichtiges Bild ist das des Knechtes Gottes. Im Kapitel 49 zeigt sich dieser Knecht als kollektiver Zeuge und Bote Gottes, der mit seiner Botschaft auf Skepsis stößt. Man feindet ihn schließlich an und bedroht ihn. Doch Gott verheißt ihm Erfolg und verspricht, Jerusalem wieder in großer Pracht aufzurichten. Die christliche Tradition knüpfte an diese(n) Vorstellungen an, und fand darin einen Verweis auf Geschichte und Schicksal Jesu. Die jüdische Tradition deutete diese Texte mehrheitlich auf das Volk Israel. Die Aufgabe des Knechtes wird in Jesaja 49 klar umrissen. Er soll ganz Israel, das auf der Welt zerstreut ist, in Jerusalem versammeln und sein Schicksal des Exils beenden, und er soll zudem zum Licht der Welt werden, also in die ganze Welt mit seiner Botschaft hineinstrahlen.

Darin zeigt sich ein Doppeltes, was in der Geschichte und Erfahrung des Judentums über die Jahrhunderte deutlich wurde. Zum einen wurde die Hoffnung nie aufgegeben, dass einst Jerusalem und Israel zum Zentrum aller Jüdinnen und Juden auf der gesamten Welt werden könne, zum Ort, an dem sie frei von Verfolgung leben können; zum anderen wird Judentum als Größe verstanden, die immer auf die Welt ausstrahlt, die eine Botschaft in sich trägt, die für alle Menschen von Bedeutung sein kann.

Lebenskunst
Sonntag, 15.1.2023, 7.05 Uhr, Ö1

Erfahrung von Gerechtigkeit, Recht und Freiheit

Der große jüdische Philosoph Maimonides äußerte einmal die Meinung, dass auch Christentum und Islam Wege sind, um die Botschaft des Judentums zu verbreiten, da sie in sich religiös, kulturell und ethisch Entscheidendes vom Judentum übernommen haben. Als Christ betone ich, dass es kein Christentum ohne Judentum geben kann, und dass, wie es einst Johannes Paul II. in der Synagoge in Rom ausdrückte, „Die jüdische Religion für uns nicht etwas ‚Äußerliches‘ ist, sondern in gewisser Weise zum ‚Inneren‘ unserer Religion gehört“. Diese Aussage gilt es in all ihrer Bedeutung zu würdigen. Ein Christentum ohne Judentum kann es nicht geben.

Am Schluss gilt es, den letzten Satz des Jesajatextes noch einmal in Erinnerung zu rufen. „Ich mache dich zum Licht der Nationen; damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.“ Es geht also nicht um die Befindlichkeit oder den Vorrang einzelner Religionen oder Kulturen, sondern um Gottes Heil, oder drücken wir es moderner aus, um die Erfahrung von Gerechtigkeit, Recht und Freiheit, um die ethische Durchdringung der Welt, um ein bescheidenes Glück, das alle Menschen erfahren sollen. Diese Aufgabe eint alle Gläubigen und beginnt bei jedem und jeder einzelnen.