Zwischenruf 29.1.2023, Eric Frey

Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Vor wenigen Tagen hat sich die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz zum 78. Mal gejährt. Der Tag wird heute als internationaler Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Das war nicht immer so.

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg lag in Deutschland, in Österreich und im restlichen Europa ein Mantel des Schweigens über Verbrechen der Nazis und insbesondere die der systematischen Ausrottung des europäischen Judentums. Erst nach und nach hat eine neue Generation begonnen, Fragen zu stellen und nachzuforschen, und erst in den 1990er-Jahren wurde das Gedenken an die Schoah in Deutschland und Österreich zu einem nationalen Anliegen, das mit großem Ernst von Teilen der Gesellschaft betrieben wird. Das Bewusstsein über die Schuld der Vorfahren und die heutige Verantwortung ist für viele Österreicherinnen und Österreicher zu einem bestimmenden Teil ihrer Identität geworden.

Eric Frey
ist Journalist und Präsident der liberalen jüdischen Gemeinde Or Chadasch

Teil der eigenen Identität

Diese Entwicklung stimmt mich zuversichtlich. Wenn sich ein Land mit den Vergehen und Verbrechen der Vergangenheit auseinandersetzt, trägt das zur moralischen und zivilisatorischen Verbesserung der Gegenwart bei, wird es friedlicher, toleranter und liberaler. Wird hingegen die Vergangenheit aus politischer Taktik oder falsch verstandenem Nationalstolz verdrängt und verleugnet, dann vergiftet es das politische Klima und schafft Raum für Hetze und Unterdrückung. Ein aufrichtiges Gedenken ohne Tabus stärkt hingegen das demokratische Immunsystem einer Gesellschaft. Denn nur Wahrheit schafft Gerechtigkeit, heißt es schon im Psalm 85 in der Hebräischen Bibel: „Wahrhaftigkeit wird aus der Erde sprossen und Gerechtigkeit aus den Himmeln herniederblicken“.

Auch für uns Jüdinnen und Juden in Österreich ist der 27. Jänner ein wichtiger Gedenktag. Für uns ist die Schoah meist Teil der eigenen Familienbiografie und daher ein Stück der eigenen Identität. Aber während die Mehrheitsgesellschaft gut daran tut, das Gedenken intensiv zu pflegen, ist dieser Prozess, wie ich glaube, für die Nachkommen der Opfer ein zweischneidiges Schwert.

Zwischenruf
Sonntag, 29.1.2023, 6.55 Uhr, Ö1

Denn auch, wenn wir heute in einem Land leben, dessen Boden von jüdischem Blut getränkt ist und unsere Zahl im Vergleich zu früher verschwindend klein geworden ist, müssen wir uns bewusst sein, dass jüdisches Leben hier noch nie mit so viel Sicherheit, Wohlstand und gesellschaftlicher Akzeptanz verbunden war wie heute. Wir verdanken das dem demokratischen Österreich genauso wie einer Europäischen Union, die Frieden stiftet und Grundrechte sichert.

Obwohl der Antisemitismus nicht auszurotten ist, sind wir heute keine Opfer mehr und sollten uns, wie ich meine, nicht als Opfer verstehen. Denn das vergiftet die eigene Seele. Opfer darf kein Schimpfwort sein, wie manche Jugendliche den Begriff verwenden, aber es ist auch kein erstrebenswerter Status.

Ich plädiere daher dafür, die Beschäftigung mit den NS-Verbrechen nicht der jüdischen Gemeinde und ihren Funktionären zu überlassen, genauso wenig den Roma- oder anderen Minderheitenverbänden. Es ist die Mehrheitsgesellschaft – die Enkel der Täter, der Mitläufer und der damals Unwissenden -, die von all den offiziellen Feiern, zivilgesellschaftlichen Initiativen und wissenschaftlichen Arbeiten zur NS-Zeit am stärksten profitiert. Für mich als Jude ist es wichtiger, selbstbewusst nach vorne zu schauen – im Wissen, wie sehr sich Österreich verändert hat.