Zwischenruf 19.2.2023, Thomas Hennefeld

Zwischen Ohnmachtsgefühl und Selbstbestimmung

Die Erde ist nicht, wie man meinen könnte, fester Boden unter unseren Füßen. Sie besteht aus kleineren und größeren Platten. Diese sind immer in Bewegung. Sie treffen aufeinander, manchmal verkeilen sie sich ineinander, und dann gibt es einen Ruck, und die Erde fängt an zu beben, so erklärt es die Wissenschaft.

Solche Bewegungen ereigneten sich vor knapp zwei Wochen in der Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien. Solche Bewegungen gibt es überall dort, wo Platten aufeinandertreffen. So verhielt es sich auch bei einer der wahrscheinlich schlimmsten Naturkatastrophen der europäischen Geschichte mit dem Erdbeben in der Hafen-, und Handelsmetropole Lissabon am Allerheiligentag 1755. Die Berichte darüber muten apokalyptisch an.

Thomas Hennefeld
ist Landessuperintendent der evangelisch-reformierten Kirche in Österreich

Anstoß für die Erdbebenforschung

Sechs Minuten hat die Erde gebebt. Nach einer kurzen Zeit der Stille brach mit ungeahnter Wucht eine 15 Meter hohe Flutwelle über die Stadt herein. Das Beben war in ganz Europa zu spüren. Im streng katholischen Portugal stellten sich die Menschen die Frage nach der Allmacht und Gerechtigkeit Gottes. Während der Messfeier am Allerheiligentag wurden zahllose Menschen unter den Trümmern begraben, und durch die Kerzen, die für die Verstorbenen entzündet wurden, entstanden rasende Feuersbrünste, die tagelang wüteten, während das Rotlichtviertel, etwas höher gelegen, verschont blieb.

Den Schätzungen nach kostete diese Naturkatastrophe zwischen 30.000 und 100.000 Menschen das Leben. Dem Erdbeben folgte ein politisches und gesellschaftliches Beben mit innenpolitischen Spannungen, eine Kehrtwende der kolonialen Bestrebungen und eine Erschütterung des optimistischen Selbstverständnisses der Aufklärung. Die Stadt wurde neu angelegt, die Häuser wurden erdbebensicherer gebaut, und vor allem war das Erdbeben ein Anstoß für die Entwicklung der Erdbebenforschung.

Zwischenruf
Sonntag, 19.2.2023, 6.55 Uhr, Ö1

Mehr Spielraum, als wir denken

In diesen Tagen ereignet sich eines der schwersten Erdbeben der vergangenen Jahrzehnte mit katastrophalen Auswirkungen, die gar nicht in Worte zu fassen sind. Zig-Tausende Tote, unermessliches Leid, tausende zerstörte Häuser. Es ist zum Verzweifeln, und doch gibt es inmitten dieses Dramas Hoffnungsmomente und Wunder: Menschen, die aus den Trümmern geborgen werden, auch noch nach Tagen, verfeindete Nachbarstaaten, die einander Hilfe anbieten und so weiter. Auf manche Naturkatastrophen und deren Auswirkungen hat der Mensch wenig Einfluss, bei anderen ist er der Hauptverursacher. Und meistens ist es eine Kombination von beidem. Die Urkräfte der Natur, aber auch vernachlässigte Bauvorschriften, Korruption und Misswirtschaft.

Es ist müßig zu fragen, ob Gott so eine Katastrophe bewirkt oder zulässt. Wichtig ist, dort zu handeln, wo es uns möglich ist. Und wir haben oft mehr Spielraum, als wir denken. Heute gilt es, den Menschen im Erdbebengebiet zu helfen, zu spenden und auch sonst beizustehen, und sie vor allem nicht zu vergessen, wenn sie aus den Schlagzeilen verschwunden sind. Der Mensch kann nicht verhindern, dass sich die Erdplatten bewegen, aber andere Tragödien, die immenses Leid verursachen, sind nicht naturgegeben und müssten nicht sein: wie Krieg, atomare Unfälle oder der Klimawandel.