Lebenskunst 26.2.2023, Mirja Kutzer

Bibelessay zu Genesis 2,7-9; 3,1-7

Es ist nicht möglich, nicht an eine schwarze Schlange zu denken. Mit diesem Satz kam mein Mann in dieser Woche von seiner Physiotherapeutin zurück.

Physiotherapeutisch erklärt er tatsächlich vieles. Wenn ich versuche, nicht an eine Schlange zu denken, denke ich automatisch an sie. Wenn ich versuche, nicht an das Ziehen im Knie zu denken und gleich Fehlhaltung einzunehmen, denke ich erst recht dran. Und absolut penetrant: dieses Geräusch im Ohr, das sofort da ist, wenn ich darüber nachdenke, ob ich es höre. Ich kann es nicht nicht hören. So wenig, wie ich nicht nicht an eine schwarze Schlange denken kann. Eine Weisheit, die mir im Leben ab Mitte 40 unmittelbar einleuchtet.

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin an der Universität Kassel

Von der Symbolkraft alter Mythen

Die schwarze Schlange in dem Sinnspruch der Physiotherapeutin stößt mich quasi mit der Nase auf die Schlange des Textes dieser Lesung. Er stammt aus diesen ersten Texten der Bibel, die auf fiktionale Weise von den Anfängen der Menschheit erzählen und dabei tiefe Reflexionen darüber bieten, wer wir als Menschen sind. Die Funktion der Schlange in dieser sogenannten Sündenfallerzählung ist berüchtigt. Sie verführt die Frau dazu, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, und damit nimmt das Unheil seinen Lauf. Gott vertreibt das erste Menschenpaar aus dem Garten, der Tod hält Einzug, das Leben wird mühevoll. Doch eigentlich ist die Schlange in der Erzählung gar nicht so wichtig. Viel wichtiger ist der Baum. Denn er ist quasi die schwarze Schlange in der Erzählung – also die, an die ich nicht nicht denken kann.

In dem ganzen Gebäum und Gesträuch des Paradiesgartens hebt der Text zwei Bäume namentlich hervor. Im Zentrum des Gartens steht der Baum des Lebens. Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist irgendwo, an einem nicht näher bestimmten Ort. Doch er wird besonders markiert: durch das Verbot, von seinen Früchten zu essen. Mit dieser Markierung wird er zur schwarzen Schlange. Es ist nicht mehr möglich, nicht an ihn zu denken. Und damit richtet sich das Begehren der Menschen eben auf das einzige im ganzen Garten, das sie nicht haben und sich einverleiben sollen. Der Baum, so die Bildsprache des Textes, beginnt denn auch die Szenerie zu dominieren. Später im Text steht nicht mehr der Baum des Lebens, sondern der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse in der Mitte des Gartens. Seine Früchte, so stelle ich mir vor, leuchten und stacheln das Begehren des Mannes und der Frau immer weiter an. Die Schlange im Text ruft die Verführung nicht hervor, sie macht sie nur explizit.

Lebenskunst
Sonntag, 26.2.2023, 7.05 Uhr, Ö1

Der Mechanismus des Baumes

Der Rest ist grandioses Scheitern. In dem Moment, in dem die Menschen des Gartens auch noch den letzten Winkel kontrollieren, ihn sich verfügbar machen, merken sie, dass sie nackt sind. Der Ausgriff auf Vollkommenheit wirft sie zurück auf ihre eigene Verletzlichkeit, ihre Schutzlosigkeit, ihre Scham, die immer auch einen Zweifel daran bedeutet, wertvoll zu sein. Jetzt brauchen sie Kleidung – um sich zu schützen.

Den Mechanismus des Baumes, den die Bibel hier beschreibt, kennen wir so ziemlich alle. Wir können uns festbeißen an so letzten Dingen, die wir nicht kontrollieren. Da ist das Haus grundsätzlich aufgeräumt und in Schuss, aber dann sehe ich diese eine Ecke, in der der Schmutz hängt, und die macht mich so unzufrieden, dass ich aufstehe und putze, statt eine Stunde auf der Couch zu genießen. Die Zufriedenheit währt nur kurz, denn der nächste Lurch kommt bestimmt, und bei mir macht sich Erschöpfung breit.

Gewinn an Lebensqualität

Oder: Die Beziehung läuft gut, wir sind zufrieden, bis auf diesen einen Punkt am anderen, der mich immer wieder nervt. An diesem einen Punkt muss sich der andere ändern, unbedingt! Und plötzlich steht die ganze Beziehung infrage. Oder eben dieses Geräusch im Ohr, das ich meist so wunderbar vergesse – gerade höre ich es. Die Physiotherapeutin hat Recht, ebenso wie die Bibel. Unser Leben ist voll von diesen Bäumen oder den schwarzen Schlangen – im großen Weltgeschehen ebenso wie im Privaten und Persönlichen. Sie tauchen in großer Regelmäßigkeit dort auf, wo wir alles im Griff haben wollen, wo wir noch den letzten Winkel der Welt, des anderen, von uns selbst zu kontrollieren versuchen. Und unweigerlich legt die Suche nach Perfektion unsere Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit offen – und auch die Angst, nichts wert zu sein.

Womöglich ist der Tod, den Gott im Text über den Menschen verhängt, gar keine Strafe, sondern ein Schutz – so wenigstens deutet es der Wiener Theologe Kurt Appel. Zu wissen, dass wir sterben werden, macht uns deutlich, dass wir nicht alles in der Hand haben und es auch nie haben werden, dass wir uns in der Unperfektion gefälligst einrichten sollten. Es wäre ein Gewinn an Lebensqualität, wenn wir die schwarzen Schlangen einfach vergessen würden. Wir könnten es ausprobieren!