Dienstag, 21.3.2023, Aida Loos

Schmatzkonzert mit Granatapfel

Eines der Symbole auf unserem „Haft-sin"-Tisch ist der Essig. Er steht für Geduld.

Die größte Geduldsprobe für mich sind „Schmatzgeräusche“. Bei Tieren ist es mir komischerweise egal. Aber es stört mich bei Menschen und am meisten bei meiner Familie. Als wir eines Sonntagnachmittags wieder gesammelt, das heißt gemeinsam mit meinen drei Schwestern, denen unglücklicherweise „Schmatzgeräusche“ immer schon egal waren, bei meiner Mutter aßen, eskalierte die Situation.

Aida Loos
ist Kabarettistin und Schauspielerin

Herzlicher Lacher

Meine Mutter hatte gerade einen Granatapfel aufgeschnitten, also einen Granatapfel in vier Teile geteilt, wobei sie nie ganz durchschnitt und der Granatapfel dann so aussah wie eine wundersame Blume, die gerade von der Sonne geküsst aufgeht. Sie nahm die Granatapfel-Blume und pickte nicht etwa Kern für Kern heraus, sondern hielt den ganzen Granatapfel direkt vor ihr Gesicht, bis es fast vollständig von dem Obst verdeckt war und schlürfte ihn aus.

Dieser Vorgang hatte etwas unglaublich Animalisches. Überall spritzte der rote Granatapfelsaft. Wenn sie aufschaute, um nach Luft zu schnappen, konnte man in den buschigen Augenbrauen den einen oder anderen Granatapfelkern erkennen, der sich dort verhakt hatte. Und die Wand hinter ihr sah auf einmal so aus, als hätte sie Sommersprossen. Es war ein einziges „Schmatzkonzert“ und meine Organe zitterten im Takt mit.

An jenem Sonntagnachmittag verlor ich meine Nerven und brüllte meine Mutter, die sich gerade ihre roten Hände wie ein Herzchirurg nach getaner Arbeit zufrieden in einer Serviette abwischte, an: „Mutti, bitte, ich kotze gleich! Hör auf zu Schmatzen.“ Sie lachte immer, wenn ich das sagte. Auch diesmal – was die Sache noch schlimmer machte. Es war ein herzlicher Lacher aus dem Bauch, wo vermutlich gerade die halb zerkauten Granatapfelkerne desorientiert ihres Weges gingen. Sie zog auf, als hätte sie Schnupfen, und sagte: „Aida, bitte! In Afrika sterben jeden Tag 100.000 Menschen, weil sie nicht genug zu essen haben. Und dein Problem ist, ob ich schmatze oder nicht schmatze? Du bist verrückt! Gehst bitte zum Psychologen!“

Ich ging dann tatsächlich zum Psychologen, der meine Misophonie, also meinen Ekel vor „Schmatzgeräuschen“, erfolglos behandelte.