Lebenskunst 29.10.2023, Martin Jäggle

Bibelessay zu Matthäus 22,34-40

Als ich an Lebensjahren noch jung war, hat für mich dieses Evangelium die Mitte des Christentums exklusiv auf den Punkt gebracht: Jesus verbindet in ganz neuer Weise Gottes- und Nächstenliebe miteinander, die von ihm selbst gelebt werden.

Vielleicht hätte ich damals auf die Frage, welcher Religionsgemeinschaft Jesus von Nazareth angehört hat, wie vor kurzer Zeit ein Schüler in einem Wiener Gymnasium heute auch geantwortet: „Jesus war Christ“. Darüber aufgeklärt, dass Jesus doch Jude war, stimmte dieser Schüler schließlich zu und sagte: „Aber dann hat er sich taufen lassen.“

Martin Jäggle
ist Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdisch Zusammenarbeit

Halte lieb deinen Genossen, dir gleich

Die Vorstellung von einem Jesus, der zwar Jude war, aber sein Judentum hinter sich gelassen, ja im Gegensatz dazu gelebt und gelehrt hat, wird noch lange wirksam bleiben. Schließlich ist jahrhundertelang dafür gearbeitet worden. In der Zeit des Nationalsozialismus gab es sogar ein Entjudungsinstitut.

Wie sehr die Entjudung Jesu im Widerspruch zur Realität und der Bibel steht, zeigt sich gerade an diesem Evangelium über die Frage nach dem wichtigsten Gebot. Hier wird Jesus mit „Meister“ als Lehrer angesprochen. In seiner Antwort zitiert Jesus das Gebot der Gottesliebe aus dem wichtigsten jüdischen Gebet, dem „Schma Israel“, „Höre Israel“, das dreimal täglich gebetet wird. Es steht im 5. Buch Mose, dem Buch Deuteronomium, und ist somit Teil der Tora, wie die ersten fünf Bücher der Bibel jüdisch bezeichnet werden.

Lebenskunst
Sonntag, 29.10.2023, 7.05 Uhr, Ö1

Schlüssel zur Bibel

Nach diesem ersten und wichtigsten Gebot folgt in der Antwort Jesu als zweites, ebenso wichtiges das Gebot der Nächstenliebe. Hier zitiert Jesus ebenfalls aus der Tora, aus dem 3. Buch Mose, dem Buch Levitikus: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Oder wie es in der Übersetzung von Buber/Rosenzweig heißt: „Halte lieb deinen Genossen, dir gleich.“ Dabei wäre zu beachten: Das 3. Buch Mose bildet die Mitte der Tora, das Liebesgebot steht in der Mitte dieses Buches, wo auch die Bestimmungen zum Versöhnungstag zu finden sind. Daher widerspricht die traditionelle Gegenüberstellung von Judentum als Gesetzesreligion und Christentum als Liebesreligion den biblischen Grundlagen – mit verheerenden Folgen.

Die abschließende Zusammenfassung im letzten Satz dieser Textstelle „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz“, also die Tora, „und die Propheten“ macht deutlich: Das ist der Schlüssel zur ganzen Bibel – auch für Christinnen und Christen. Sie könnten, in die Schule Jesu gehend, das Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe als gemeinsames Gut von Judentum und Christentum betrachten. Hilfreich dafür wäre, Jesus in seinem Judentum zu verstehen, ohne dass – nach Bischof Manfred Scheuer – Jesus „für Christen nicht zu haben ist“.