Neokatechumenat: Die strenge Schule der Katholiken

Lokalaugenschein bei dem päpstlich anerkannten, aber umstrittenen Neokatechumenat. Eine Reportage von Missionseinsätzen, Gottesdiensten und von der Priesterausbildung der Bewegung.

An diesem schönen Sonntag im Mai ist es gar nicht leicht, noch einen Platz auf den Wiesen des Wiener Augartens zu ergattern. Unzählige Menschen picknicken, spielen Federball oder faulenzen hier. Dazwischen sammelt sich am Nachmittag eine Gruppe von Mitgliedern des Neokatechumenats. Leitern als Plakatständer, Lautsprecherboxen und Instrumente werden herbeigebracht. Schließlich sind es rund 70 Personen, die sich in einem Kreis um ein Rednerpult mit Marienbild und goldenem Kreuz stellen. „Mission“ ist auf einem großen Plakat zu lesen.

Neokatechumenat

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Die Neokatechumenalen singen im Wiener Augarten biblische Psalme und tanzen dazu im Kreis

„Wort Gottes“ zwischen Picknick und Federball

Hebert Ledermüller, im Berufsleben praktischer Arzt, ist verantwortlich für die Gruppen des Neokatechumenats in der Pfarre St. Brigitta in Wien und gibt noch ein paar Anweisungen zum Ablauf der Missionsveranstaltung. „Zuerst ein Psalm, dann ein Erfahrungsbericht, dann wieder Psalm und Erfahrung“ erklärt er das Programm in knappen Worten. Schließlich ein Nicken zu den vielen Gitarrespielern und schon geht es los mit dem ersten Lied. Gesungen wird im Wechsel zwischen Vorsänger und antwortender Gruppe, und die beginnt sich auch sogleich mit einem einfachen Tanzschritt, so wie es König David in der Bibel getan haben soll, im Kreis zu drehen.

Ein junger Mann tritt zum Rednerpult und erzählt von seinem Leben. Er sei ein harter Vater, mache viele Fehler, begehe immer wieder Sünden. Doch er bereue und sei froh, dass es jemanden gibt, der ihm vergibt: Gott. Einige Passanten bleiben stehen, ein paar Neugierige nähern sich vorsichtig. Wer will, bekommt eine Einladung zu einer Katechese in einer katholischen Pfarrgemeinde, in der das Neokatechumenat aktiv ist. Derzeit ist das in vier Wiener Pfarren der Fall.

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Im Wiener Augarten wird zur Beichte aufgerufen. Die Konfrontation mit den eigenen Verfehlungen, das „öffentliche“ Eingestehen von Schuld und Sünde führt immer wieder zu besonders emotionalen Momenten. Für viele auf dem neokatechumenalen Weg ist es aber gar nicht einfach, mit dem gegenseitigen Wissen um die Schwächen umzugehen.

Katechese: Kirchliches Ausbildungsprogramm

Katechesen sind Unterweisungen im Glauben. Religionslehrer nannte man früher oft Katecheten. Vor Taufe, Erstkommunion oder Firmung fanden in der katholischen Kirche immer schon Katechesen statt. Die neuen Gläubigen sollten sich bewusst und wissend für die Aufnahme in die Kirche und den Empfang der Sakramente entscheiden. Das Neokatechumenat wendet sich mit seinen Katechesen jedoch an bereits getaufte Menschen. Ziel sei es „laue“ Katholiken, sogenannte „Taufscheinchristen“ wieder an die katholische Kirche heranzuführen. Sie sollen die Bibel und Lehre der Kirche neu kennenlernen und schließlich ihr Taufversprechen erneuern. Das passiert im Neokatechumenat, einem intensiven Ausbildungsprogramm, das sich über viele Jahre strecken kann.

Initiiert haben dieses Neokatechumenat der Künstler Kiko Arguello und die ehemalige Ordensfrau Carmen Hernandez 1964 in Madrid. Genau genommen ist es bis heute keine Bewegung, sondern ein „Weg“, im Kirchenlatein „Itinerarium“ genannt, ein Instrument der römisch-katholischen Kirche zur Glaubensunterweisung von Erwachsenen und seit 2008 auch kirchlich approbiert.

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Kiko Arguello und Carmen Hernandez, die Initiatoren des neokatechumenalen Weges, bei Papst Benedikt XVI. Alle Päpste haben bisher das Neokatechumenat unterstützt, aber auch immer wieder mahnende Worte ausgesprochen. So solle sich das Neokatechumenat mehr in die Pfarren integrieren, forderte Papst Benedikt XVI. 2012

Vom Teufel beherrscht?

Im Augarten streifen einige Priester ihre Alben über und sind bereit, die Beichte zu hören. Sogleich bekennen einige Mitglieder des Neokatechumenats ihre Sünden. Erkennen der eigenen Fehlerhaftigkeit und Bekennen von Schuld haben eine zentrale Bedeutung auf dem neokatechumenalen Weg. Der Mensch sei vom Teufel beherrscht und dem Bösen nahezu hilflos ausgeliefert, so die Lehre. Das zu erkennen steht am Anfang des Weges des Neokatechumenats, und nur Gott könne retten. Viele Theologen, so auch Johann Pock, Leiter des Instituts für Praktische Theologie der Uni Wien, halten diese Theologie für sehr hinterfragenswert. Im Gespräch mit religion.ORF.at meint er, „dass der theologische Grundansatz ein anderer sein muss. Zuerst sollte eigentlich vom liebenden Gott verkündet werden, und von dem ausgehend, sollte dann zur Umkehr eingeladen werden“.

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Wortgottesdienst einer neokatechumenalen Gemeinschaft in der Pfarre St. Brigitta. Diese Versammlungen sind nicht öffentlich. Man hört Schriftstellen aus der Bibel und erzählt seine „Erfahrungen“ dazu vor der Gemeinschaft. Auch hier findet immer wieder das Bekennen von eigenen Fehlern und Schwächen statt. Durch die Dynamik der Gruppe entstehe manchmal ein unangenehmer Druck auf einzelne Mitglieder, erzählen ehemalige Neokatechumenale

Der Weg des Neokatechumenats ist jedenfalls zeitintensiv. Katechesen, Erfahrungsaustausch, Wortgottesdienste: Mehrmals in der Woche treffen die etwa zwanzig bis dreißig Mitglieder einer Gemeinschaft einander. Diese Treffen sind nicht öffentlich, genauso wie die Eucharistiefeier, die immer am Samstag in Anlehnung an das jüdische Pessachmahl stattfindet. Auch an den Sonntagen gibt es regelmäßig Treffen oder Missionsveranstaltungen. In den meisten Pfarrgemeinden sorgt das für Konflikte. Die „alteingesessenen“ Pfarrmitglieder haben oft das Gefühl, dass plötzlich eine neue, „elitäre“ Gemeinde entstünde, die sich aber aus dem bisherigen Pfarrleben herausnehme, so ein oft gehörter Vorwurf. Auch in St. Brigitta wird das immer wieder so formuliert. Wolfgang Seybold, seit ein paar Jahren Pfarrer in St. Brigitta und Mitglied des Neokatechumenats, leugnet diese Konflikte nicht. „Ich denke, das ist ein ganz normaler Prozess, weil Neues immer Altes in Frage stellt, und das ist auch hier passiert in der Pfarre und passiert zum Teil noch immer. Aber dort, wo etwas in Bewegung ist, dort wo Spannungen sind, dort ist auch Leben.“, erzählt er im Interview mit religion.ORF.at.

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Seit Jahren gibt es in der Wiener Pfarre St. Brigitta Konflikte rund um das Neokatechumenat. Kein Einzelfall: In vielen Pfarren herrscht immer wieder Aufregung. Im Neokatechumenat sieht man sich oftmals durch die „Angriffe“ und heftige Kritik von außen bestätigt. Ein Zeichen auf dem richtigen „Weg“ zu sein, auch Jesus Christus sei bis zum Kreuzestod verfolgt worden, erzählt Pfarrer Wolfgang Seybold

Konflikte in den Pfarren: Päpstliche Mahnung

Die Probleme in den Pfarrgemeinden - das Neokatechumenat ist weltweit in über 5.000 Pfarren aktiv - haben Papst Benedikt XVI. im Jänner 2012 mahnende Worte formulieren lassen. Die Neokatechumenalen dürften ihre Sonntagsgottesdienste bereits am Samstagabend in kleinen Gruppen feiern, um von der Kirche entfernte oder noch nicht ausreichend ausgebildete Personen an den „Reichtum des sakramentalen Lebens“ heranzuführen. Jedoch müsse die Eucharistie als Höhepunkt des christlichen Lebens prinzipiell allen Gläubigen offenstehen.

Der Neokatechumenale Weg
- Initiiert durch Kiko Argüello und Carmen Hernandez im Jahr 1964
- 1990 Anerkennung von der römisch-katholischen Kirche als geistliche Gemeinschaft
- Päpstliche Approbation der Statuten am 11. Mai 2008
- Primäres Ziel: die Gläubigen „stufenweise zur Intimität mit Jesus Christus zu führen und sie zu aktiven Gliedern in der Kirche und zu glaubwürdigen Zeugen der Guten Nachricht des Retters zu machen“
- Verbreitung: Derzeit gibt es Gruppen in rund 5.000 Pfarren in 900 Diözesen.

Auch während des Ausbildungswegs der Gemeinschaft dürften sich die Neokatechumenalen dabei nicht von der Pfarrgemeinde absondern. Gemeindegottesdienste müssten die „gewöhnliche Form“ der liturgischen Feier sein, so der Papst. Geändert habe das Papstwort an der gängigen Praxis wenig. Viele Konflikte seien geblieben, so Theologe Johann Pock.

Immer wieder erweckt vor allem Arguello in seinen Schriften und in zahlreichen YouTube-Videos den Eindruck, päpstlicher als der Papst zu sein. Auf seine Anweisung ist zum Beispiel den Neokatechumenalen keine Form von Verhütung erlaubt. Selbst NFP ("Natürliche Familienplanung“), in vielen katholischen Familien kirchlich erlaubtes Mittel zur bewussten Entscheidung für Nachwuchs, ist Ehepaaren auf dem neokatechumenalen Weg nicht erlaubt. Dementsprechend groß ist die Kinderschar in der Bewegung. Und was viele Bischöfe freut: Viele der Söhne aus den Familien gehen in eines der Priesterseminare des Neokatechumenats. Rund 90 der „Redemptoris Mater“-Ausbildungsstätten sind in den letzten Jahren weltweit entstanden. Eine davon steht auch in Sparbach bei Wien.

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Mittagessen im Priesterseminar in Sparbach. Man legt Wert auf gemeinsame Aktivitäten, pflegt ein intensives Gruppenleben. Nach der Priesterweihe bleiben die Geistlichen mit dem Seminar verbunden, treffen einander regelmäßig weiter

Lebensweg durch Losentscheid

Per Los wurde vor fünf Jahren entschieden, dass Rene Franco in Österreich Theologie studieren soll. Der junge Mann aus Guatemala musste erst einmal auf der Landkarte nachschauen, wo sich dieses, für ihn völlig fremde Land, befindet. Der Weg nach Österreich sei aber der „Wille Gottes“, ist er überzeugt und bereit, für dieses „höhere Ziel“ alles Vertraute zurückzulassen. Am härtesten sei die Kälte in Österreich, erzählt er bei einem Mittagessen im Seminar, aber das Essen schmecke vorzüglich, fügt er hinzu. Die eben aufgetischte Lasagne wurde von der italienischen Familie am Nebentisch zubereitet. Viele Familien stellen alles in den Dienst des Neokatechumenats und gehen auf „Mission“, wie sie sagen. So lebt auch immer eine Familie des Neokatechumenats im Sparbacher Priesterseminar. Sie unterstützt die jungen Männer mit Kochen und Haushaltstätigkeiten.

Interna über das Neokatechumenat zu erfahren ist schwer. Dürftig sind gut recherchierte Informationen. Groß hingegen sind Halbwissen und Spekulationen über diesen Weg, vor allem dort, wo es mit dem Neokatechumenat Konflikte in Pfarren gibt. Die Gruppe gibt sich in der Öffentlichkeit verschlossen. Wenn man mit Menschen im Neokatechumenat sprechen möchte, findet man kaum Interviewpartner. Vor der Entscheidung zu einem Gespräch wird immer noch ein Verantwortlicher gefragt. Man müsse noch ein Okay einholen, hört man, und bekommt dann oft eine Absage. Allgemein wird vor allem Medien gegenüber ein großes Misstrauen ausgesprochen. Zu oft sei man „bewusst schlecht dargestellt worden“, sei die Erfahrung. Die Kritik vieler Artikel, auch in seriös recherchierenden Medien, ist heftig. Die Website der evangelischen Informationsstelle Reliinfo.ch zum Beispiel schreibt über „geheime Riten“ des Neokatechumenats, beobachtet „Weltverneinung und Exklusivitätsanspruch“ der Mitglieder und zitiert den Gründer Arguello mit durchaus menschenverachtenden Textstellen gegen Familie und Kinder.

Kritik als Zeichen für den rechten Weg?

Die Recherchen von religion.ORF.at können viele dieser heftigen Vorwürfe nicht bestätigen. Bei der Anfrage von religion.ORF.at war es schließlich möglich, einen „internen“ Wortgottesdienst zu besuchen, auch zu einem unter Ausschluss der Öffentlich stattfindendem sonntäglichen Morgengebet wurde eine Einladung ausgesprochen. Das Priesterseminar in Sparbach öffnete seine Pforten und letztlich standen auch genügend Interviewpartner zur Verfügung. Einblick in interne Literatur gab es freilich nicht. Hinweise auf extern geäußerte Kritik wurde oft als „Anfeindungen“, eigentlich Zeichen für den „rechten Weg“, weil auch Christus verfolgt wurde, rasch abgetan.

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Recherchebesuch bei der Familie Ledermüller am Sonntag. Eltern und Kinder beten das kirchliche Morgengebet, hören aus der Bibel, erzählen „Erfahrungen“, und dann segnet Herbert Ledermüller alle seine Kinder. Das sind seltene Einblicke in die sehr intimen Momente neokatechumenalen Alltagslebens

Am Ende von drei Wochen Recherche bleiben zahlreiche Eindrücke zurück: von Menschen, die ihr Leben schon fast „weggeworfen“ hätten und durch das Neokatechumenat „neuen Sinn“ erfahren haben, wie etwa Wolfgang Seybold. Von Gläubigen, die ihr Leben immer wieder auf den Prüfstand stellen und nach dem Bekenntnis von Schuld und Sünde dennoch nicht frei und fröhlich wirken. Von einer Missionsveranstaltung, die in ihrer äußeren Form und liturgischen Sprache so überhaupt nicht mitten in den Augarten zu passen scheint. Bilder von jungen Seminaristen, die gemeinsam studieren, sporteln, Lasagne essen und bereit sind, für das Neokatechumenat an jeden Punkt der Erde zu gehen. In Erinnerung bleiben Erfahrungsberichte, etwa von Karin Knopf, die überzeugt erzählt, dass Gott sie durch alle Situationen trage, ob beim Tod ihrer Mutter oder im Moment ihrer Kündigung. Zurück bleibt aber auch der Eindruck von strikter Reglementierung in einer hierarchischen Organisation, die nicht gerade Selbstbestimmung und Freiheit des Einzelnen zu fördern scheint. Viel Widersprüchliches also in der „strengen Schule der Katholiken“, dem Neokatechumenat.

Marcus Marschalek, religion.ORF.at

Links:

Mehr dazu:

Neokatechumenat: Mission im öffentlichen Raum

Video on Demand

Orientierung: Der Neokatechumenale Weg in Österreich