Syrien: „Ein Land, das nur noch aus Trümmern besteht“

Der melkitische Erzbischof von Aleppo, Jean-Clement Jeanbart, zeichnet ein erschütterndes Bild der syrischen Tragödie. Über das Schicksal der beiden entführten syrischen Bischöfe weiß er nichts.

In einem Interview mit der vatikanischen Nachrichtenagentur Fides beschrieb Jeanbart Syrien als „ein Land, das nur noch aus Trümmern besteht“ und wo es „Gewalt, schreckliche Morde an Zivilisten, an Frauen und Kindern gibt“. Der melkitische (griechisch-katholische) Erzbischof sprach von „Chaos und Verwüstung in einem Konflikt, bei dem alle verlieren“. Syrien bedürfe dringend einer politischen Konfliktlösung.

Der melkitische Erzbischof von Aleppo, Jean-Clement Jeanbart

Kathbild/Franz Josef Rupprecht

Der melkitische Erzbischof von Aleppo, Jean-Clement Jeanbart

Zum Schicksal der beiden entführten Metropoliten aus Aleppo und zweier Priester sagte der Erzbischof nach einem Bericht der Stiftung Pro Oriente: „Wir haben keine Neuigkeiten, wir wissen nichts.“ Auch das sei eine Folge des herrschenden Chaos.

In die Bemühungen um die Freilassung der im April im syrisch-türkischen Grenzgebiet verschleppten Erzbischöfe Mar Gregorios Johanna Ibrahim (syrisch-orthodox) und Boulos Jasidschi (griechisch-orthodox) sind die UNO, der Libanon, die Türkei, Russland und die USA eingeschaltet. Jeanbart erinnerte daran, dass Papst Franziskus jüngst die „Plage der Entführung von Personen“ beklagte. Er habe für „das Land, dessen Zivilbevölkerung abgeschlachtet wird“, Dialog und Aussöhnung gefordert.

„Auf der Suche nach einem würdigeren Leben“

Düster sehe die Zukunft für die Syrer und insbesondere die dortigen Christen aus. Jeanbart befürchtet, dass noch mehr Christen das Land „auf der Suche nach einem würdigeren Leben“ verlassen werden. „Wenn die Zukunft für uns Christen und für alle Syrer nicht auf den gleichen staatsbürgerlichen Rechten, auf Freiheit und Würde und auf gegenseitiger Achtung gründet, was wird dann geschehen?“ Düster sei auch der Alltag: „Es gibt weder Waren noch Treibstoff oder Strom und oft fehlen auch Lebensmittel.“

Mittlerweile wurden Details über die Lage in der Stadt Kusseir bekannt, die Anfang Juni von den Regierungstruppen zurückerobert wurde. Dort hatten vor dem Ausbruch der Kämpfe 5.000 Christen und 25.000 sunnitische Muslime gelebt. Als Oppositionelle die Stadt im Mai 2012 eroberten, verließen fast alle Christen und auch viele Muslime die Stadt, weil offenbar die islamistischen Kräfte gegenüber säkularen Gruppen die Oberhand gewannen.

Als die syrische Armee - allerdings gemeinsam mit Hisbollah-Islamisten aus dem Libanon - wieder in Kusseir einrückte, waren nur noch zwei Christen in der Stadt: Talal Haddad und sein Onkel harrten zusammen mit einem muslimischen Nachbarn aus. Al-Nusra-Kämpfer schossen Haddad in den Fuß, um auch ihn in die Flucht zu jagen.

Zwei Kinder vor der Ruine eines Hauses in Qusair

REUTERS/Rami Bleibel

Die Kämpfe um die Stadt Kusseir haben eine Spur der Verwüstung hinterlassen

Kloster verwüstet

Die Nachrichtenagentur Asia News berichtete über eine Verwüstung des griechisch-orthodoxen St. Elias-Klosters in Kusseir durch Al-Nusra-Kämpfer, nachdem die Mönche die von den Rebellen besetzte Stadt verlassen hatten. Die BBC-Journalistin Lyse Doucet, die nach dem Abzug der Rebellen als erste ausländische Zeugin die Stadt besuchte, schilderte, das kleine Kloster sei augenscheinlich unter Beschuss genommen worden. Ikonen, Bibeln und Messbücher lagen verstreut. Bei vielen Ikonen seien die Augen ausgestochen gewesen.

Laut Fides kam es im Zuge der Kämpfe um Kusseir auch zu Übergriffen auf christliche Dörfer in der Provinz Homs. Ende Mai seien Al-Nusra-Kämpfer in das Dorf Duar eingefallen, wo 100 griechisch-orthodoxe Familien leben. Sie hätten die Kirche besetzt und von dort auf die fliehenden Zivilisten gefeuert. Ein 18-jähriges Mädchen und ein elfjähriger Bub wurden erschossen. Danach wurden der christliche Bürgermeister Joseph Jamil Adra und ein weiterer Mann als Geiseln verschleppt.

Die Häuser der Christen in dem Dorf wurden verwüstet und angezündet. Die traumatisierten Flüchtlinge seien in einer armenisch-apostolischen Pfarre nahe Homs untergekommen. Ein weiterer Überfall im Dorf Usm Scharschoh in der Provinz Homs habe dort mehr als 250 christliche Familien in die Flucht getrieben.

Sohn vor Augen der Mutter erschossen

Eine grauenvolle „Hinrichtung“ eines Buben, die Christen wie Muslime gleichermaßen in Schrecken versetzt, ereignete sich vor einigen Tagen in Aleppo. Der 15-jährige Mohammed Kataa soll sich beim Kaffeeverkaufen in einen Streit eingelassen haben, in dessen Verlauf er gesagt habe: „Selbst wenn der Prophet Mohammed aus dem Paradies herabkommt, würde ich kein Gläubiger werden.“

Er sei daraufhin von Al-Nusra-Kämpfern festgenommen, gefoltert und später zu seinem Kiosk geführt worden, wo er vor den Augen seiner Eltern mit zwei Kopfschüssen getötet wurde. Ein Milizionär erklärte vor der versammelten Menge: „Bürger von Aleppo, wer nicht an Gott glaubt, ist ein Polytheist, wer den Propheten schlecht macht, ebenso. Wer solche Blasphemien sagt, wird auf diese Weise bestraft.“ Die Mutter hatte die Mörder vergeblich angefleht, ihr Kind zu verschonen.

APA

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