Auf den Spuren von Boko Haram

Peter Kullmann und Magdalena Maier haben sich für „kreuz und quer“ in Nigeria auf die Suche nach den Hintergründen der Terrororganisation Boko Haram gemacht und sind dabei auch selbst in gefährliche Situationen geraten.

„Wären wir hier, um Dich zu töten, dann wärst Du längst tot. Wer immer versucht, unseren Glauben anzugreifen, den wird unser Glaube vernichten.“ Starke Worte wie diese enthält die „kreuz und quer“-Dokumentation unter dem Titel „Gottes Krieger – Gottes Feinde“, die am 8. Oktober in ORF 2 erstmals gesendet wird.

Die Stadt Maiduguri in Nordnigeria gilt als Entstehungsort der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram – und sie ist Endstation einer monatelangen journalistischen Reise eines „kreuz und quer“-Teams durch Nigerias Krisen-Hotspots. Ein Zusammentreffen mit den Boko-Haram-Kämpfern an einem geheimen Ort in Nigeria war das gleichsam lang verfolgte und doch unerwartete Ziel der Suche nach den Hintergründen des blutigen Konflikts.

Sendungshinweis

„Gottes Krieger - Gottes Feinde“: „kreuz und quer“-Dokumentation mit anschließender Diskussion über die Terrororganisation Boko Haram in Nigeria

Di., 8. Oktober 2013, 22.30 Uhr, ORF 2
Link zur Sendung mit Video-on-Demand

Ein zweigeteilter Staat

Nigerias Besonderheit – und sein größtes Problem – liegt in dem einzigartigen Umstand, dass rund die Hälfte der geschätzten 150 Millionen Einwohner Christen, die andere Hälfte Muslime sind. Das hat bereits dazu geführt, dass sich Afrikas bevölkerungsreichster Staat praktisch zweiteilt: in einen vornehmlich muslimischen Norden (der weitestgehend unter der islamischen Gesetzgebung der Scharia regiert wird) und einen christlich dominierten Süden.

Dazwischen verläuft eine unsichtbare Trennungslinie entlang des „Middle Belts“ jener kulturell-religiösen Verwerfungszone zwischen dem nordafrikanischen Sahel und Schwarzafrika, der Region Nigerias mit den meisten gewalttätigen Auseinandersetzungen. Nur nahe liegend also, die Stadt Jos im Bundesstaat Plateau im Middle Belt zum Ausgangspunkt der Recherchen nach den Ursachen für die jahrelang andauernden, gewalttätigen Konflikte zu machen.

Soldaten

ORF/Kubefilm

Soldaten der Joint Task Force in Nigeria

Sicherheitskräfte machtlos

Der muslimische Journalist Buhari Bello aus Jos ist dabei die erste Anlaufstelle des „kreuz und quer“-Teams. Er hat gute Kontakte zu ranghohen Christen wie Muslimen, zwei davon sind der katholische Pfarrer Obiora Ike und der Oberste Imam der Hauptmoschee in Jos.

Buhari kennt aber auch die Bewohner des krisengebeutelten Viertels „Congo-Russia“ (benannt nach den UNO-Friedenstruppen aus der damaligen UDSSR und dem Kongo, die während des Bürgerkrieges in den 1960er-Jahren verfeindete ethnische Volksgruppen des Stadtteils vor größeren Auseinandersetzungen bewahrten), der Zufluchtsort für arbeitslose, drogenabhängige, bewaffnete Jugendliche und Ausgangspunkt der ersten flächendeckenden Kämpfe zwischen den Religionsgemeinschaften im Jahr 2001.

„Dieses Viertel ist unkontrollierbar“, sagt Buhari. „Auch unsere Sicherheitskräfte sind machtlos, wenn die Jungen ausrasten. Die Jugendlichen hoffen zuweilen sogar auf die nächste Krise, damit sie auf Beutezug gehen können.“ Dringt man tiefer in Nigerias dunkle Ecken, erkennt man rasch, dass die Probleme weitaus komplexer sind, ursächlich keineswegs nur religiös motiviert waren, dafür zuweilen bis in die ranghohe Politik reichen.

„Es ist die Politik, die all diese Probleme verursacht hat“, sagt ein Student, der mit Arbeitslosen am Straßenrand kifft und Klebstoff schnüffelt. „Da kommt dann irgendein Anführer hierher und verteilt Geld, damit du kriminelle Dinge machst und mit Gewalt auf die anderen losgehst.“

„Die Leute behaupten, an mir würde Blut kleben“

Wenig verwunderlich, dass gerade dieser Ort als Keimzelle der bis heute andauernden Gewalt zwischen Christen und Muslimen in Nigeria gilt. Alles begann mit einer Attacke auf eine junge Frau, die die jahrzehntealten unterschwelligen Aggressionen zur Eruption brachte. Ruth wollte während des muslimischen Freitagsgebets eine Straße mit betenden Muslimen queren. Diese fühlten sich von ihr gestört, sahen ihre Religion durch die Christin beschmutzt.

Binnen weniger Minuten verwandelte sich die dann folgende brutale Hatz auf die junge Frau in einen tödlichen Flächenbrand über die Stadtgrenzen hinaus. Bis heute ist Rhoda Haruna Nyam - Rufname Ruth - von den Vorfällen traumatisiert: „Es ist ein Stigma für mich. Mein Name wird immer in Zusammenhang mit der Krise genannt. Die Leute behaupten, an mir würde Blut kleben. Aber ich habe niemanden getötet.“

Dunkelhäutige junge Frau

ORF/Kubelfilm

Die Attacke auf Rhoda Haruna Nyam, Rufname Ruth, gilt vielen als Auslöser der Krise in Nigeria

Eine Stadt im Krieg

Die Zerrissenheit und Gewalttätigkeiten Nigerias werden jedoch nirgendwo deutlicher sichtbar als an dem derzeit wohl gefährlichsten Ort des Landes: der Stadt Maiduguri im nördlichen Borno State. Von seinen Regierenden zur „Heimat des Friedens“ deklariert, ist sie in Wahrheit eine Stadt im permanenten Kriegszustand.

Als Geburtsort der islamistischen Sekte Boko Haram und dessen Gründer Mohammed Yusuf ist sie auch das Zentrum der militärischen Offensive der nigerianischen Sicherheitskräfte gegen den islamistischen Terror: Tausende Soldaten der Joint Task Force (JTF), verschiedene Einheiten von Armee, Polizei, Geheimpolizei und anderen verdeckt operierenden Sicherheitsdiensten kontrollieren die Straßen und praktisch jeden Winkel der Stadt. Ihnen werden massive Menschenrechtsverletzungen, Folter und jährlich tausende Morde zugeschrieben.

Westliche Medien als Feind

Als Journalist bis nach Maiduguri vorzudringen, ist schier unmöglich: Reisegenehmigungen in die Stadt werden praktisch nicht erteilt, sofern doch vorhanden, wird deren Gültigkeit von der Kommandantur vor Ort grundsätzlich in Abrede gestellt. Die Gefahr von Entführungen oder Attentaten durch Boko Haram, die westliche Medien explizit zu Feinden ihrer islamistischen Weltanschauung erklärt haben, ist allgegenwärtig.

Ein hartes Vorgehen der JTF gegen Journalisten - sollten diese sich „illegal“ im Land aufhalten - ist die Regel, denn die nigerianischen Behörden lassen nichts unversucht, um die Presse an der freien Berichterstattung über die Zustände in Krisengebieten und die zweifelhaften Polizeimethoden bei der „Befriedung“ des Landes zu hindern. Die Einschüchterung durch mehrfache Festnahmen, Verhöre, Hausarrest und Ausweisung musste das ORF-Team am eigenen Leib erfahren.

Zerstörter und verwüsteter Kirchenraum

ORF/Kubefilm

Eine von Boko Haram zerstörte Kirche

Zwischen Bewachung und Überwachung

An einem Ort wie diesem nach den Hintergründen des Konflikts zu suchen, ist lebensgefährlich. Ein beinahe tödlicher Überfall auf das Filmteam brachte dessen Arbeit zunächst zu einem vorzeitigen Ende. Die folgenden Versuche, an die Boko-Haram-Heimstätte zu gelangen, endeten mit der Festnahme und Ausweisung des Autors.

Seine wochenlangen Anstrengungen – in offiziellen, wie inoffiziellen Verhandlungen – ermöglichten ihm letztlich eine Rückkehr nach Maiduguri, wo er sich jedoch fortan nur noch in Begleitung eines Kommandos der JTF bewegen durfte. Das Arbeiten geriet zu just jener unfreiwilligen Gratwanderung zwischen sicherheitstechnisch notwendiger Bewachung und praktisch lückenloser Überwachung, wie sie für die Bewohner Maiduguris seit Jahren trauriger Alltag ist.

Schleier des Schweigens

Die Stadt des Terrors ist verhüllt in einen unsichtbaren Schleier des Schweigens. Wer als Fremder die Gefahr auf sich nimmt, an diesen Ort zu reisen, muss vorab verlässliche Kontakte aufgebaut haben. Erster Anlaufpunkt ist der christliche Journalist Ibrahim Mschelizza. Er steht vor dem Rohbau seiner neuen Kirche.

Das alte Gebäude zählt zu jenen zerstörten 50 von insgesamt 52 christlichen Gotteshäusern der Stadt. Dennoch ist es nicht vorrangig sein Glaube, der Ibrahim das Leben kosten könnte. „Als Journalist muss ich hier noch mehr um mein Leben fürchte denn als Christ.“ Wenige Wochen nach einem geheimen Treffen wird ein wichtiger Informant und Unterstützer des Filmprojekts auf offener Straße von Unbekannten exekutiert.

Frau mit schwarzen Gesichtsschleier und Brille

ORF/Kubelfilm

Aischa Wakil, selbsternannte „Mutter der Boko Haram“

Die „Mutter der Boko Haram“

Ibrahim legt den Kontakt zu einem muslimischen Journalistenkollegen, der wiederum als Verbindungsmann zu Boko Haram fungiert. Wo die Kämpfer sich aufhalten, weiß er aber nicht – es könne lediglich telefonischer Kontakt hergestellt werden, sollte Boko Haram Informationen an die Presse geben wollen.

Auch Aischa Wakil, Anwältin und selbsternannte Menschenrechtlerin, bestreitet, den Aufenthaltsort der Islamisten zu kennen. Sie selbst bezeichnet sich als „Mutter der Boko Haram", doch manche Aktionen der Terrorgruppe kann auch sie nicht nachvollziehen. „Ich habe sie oft gefragt, warum sie das UNO-Gebäude in die Luft gesprengt haben. Aber sie konnten mir nie eine konkrete Antwort geben. Ich weiß es wirklich nicht. Sie sind zu emotional, aber sie sind nicht gewalttätig“, so Wakil.

Befehle von Allah

„Allah hat es untersagt, andere anzugreifen oder fremdes Blut zu vergießen. Auch nur ein einziger Tropfen Blut ist verboten. Außer das Blut jener, die Allah uns befiehlt, zu vernichten“, sagt schließlich einer der Boko Haram Kämpfer in der Dokumentation, als schließlich doch noch ein Interview an einem geheimen Ort zustande kommt.

Die Überwachung des Filmteams war doch nicht ganz lückenlos. Die Identitäten der Gesprächspartner sind den Autoren bekannt und das Interview mit Boko Haram umfasst mehrere Stunden brisanten Filmmaterials. „Ich kann heute eine Million Menschen töten - selbst wenn es Muslime sind - das steht nicht im Widerspruch zu meiner Religion“, so der Kämpfer von Boko Haram weiter. „Wo etwa steht geschrieben: ‚Wer andere tötet, kann niemals ein guter Muslim sein‘? Bring mir denjenigen, der mir diese Worte im Koran zeigen kann.“

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