Sankt Kümmernis: Die Conchita des Mittelalters

Eine bärtige Frau erobert Europa: Das gab es schon viel früher - lange vor dem Jahr 2014. Ausgerechnet im katholischen Volksglauben des Mittelalters findet sich ein heute weitgehend vergessener Kult um eine Frau mit Bart: Die heilige Kümmernis.

Eine Frau mit Bart und einer Botschaft der Toleranz inspiriert Menschen in Europa - Conchita Wurst ist nicht die erste, die das schafft. Die Frau mit Bart ist ein sehr altes Motiv und noch dazu eines, das an Orten zu finden ist, an denen man es nicht vermuten würde: nämlich im katholischen Volksglauben im mittelalterlichen Europa.

In vielen Regionen West- und Mitteleuropas entstanden im 14. und 15. Jahrhundert Legenden von einer Märtyrerin mit Bart, die gekreuzigt worden sein soll. Sie hat viele Namen: Kümmernis oder Wilgefortis heißt sie etwa in Österreich und Bayern, Ontkommer in Belgien, Uncumber in England.

Conchita Wurst wusste, wie ihr Management gegenüber religion.ORF.at mitteilt, nichts von ihrer „Vorgängerin“, die ihr in manchen Darstellungen verblüffend ähnlich sieht. Dennoch: Auch wenn die Geschichte aus einer Zeit kommt, in der von Toleranz gegenüber Homosexuellen und Transgender-Personen keine Rede sein konnte, gibt es einige Parallelen.

Conchita Wurst beim Song Contest

APA/EPA/Jörg Carstensen

Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest

Der Bart als Schutzschild

Die Geschichten, die sich um die Heilige Kümmernis ranken, sind in ihren konkreten Ausformungen höchst unterschiedlich, die zugrundeliegende Legende ist aber immer die gleiche: Ein König (meistens der König von Portugal) will seine schöne, jungfräuliche Tochter mit einem anderen König (meistens dem von Sizilien) verheiraten. Diese sträubt sich dagegen und bittet Gott im Gebet darum, sie so zu verändern, dass kein Mann mehr Interesse an ihr habe.

Daraufhin wächst der jungen Frau über Nacht ein Bart. Sie werde Christus gleich, heißt es in einigen Versionen. Der König ist erzürnt und lässt sie zur Strafe - wie Christus - kreuzigen. Der Bart funktioniert in der Geschichte wie ein Schutzschild, um die Jungfräulichkeit der Prinzessin und damit ihre sexuelle Selbstbestimmung zu bewahren. Durch ihren Tod am Kreuz wird sie schließlich tatsächlich Jesus gleich - ein Ziel, das viele Gläubige im Mittelalter anstrebten.

Verwechslung als Ursprung

Heute gilt es als wahrscheinlich, dass die Legende nicht auf wahren Begebenheiten fußt. Gemäß dem am weitesten verbreiteten Erklärungsmodell beruht der Kümmernis-Kult vielmehr auf einer Verwechslung. Der Ursprung der bärtigen Jungfrau am Kreuz sind demnach bestimmte Darstellungen der Kreuzigung Jesu.

Während Jesus am Kreuz typischerweise gezeichnet vom Leid, mit Dornenkrone und fast nackt dargestellt wird, entwickelten sich im Europa des zehnten bis zwölften Jahrhunderts auch andere Darstellungen, die ihn als Triumphator über den Tod mit entspannter Miene und manchmal auch mit einer goldenen Krone am Kreuz zeigten. In einigen dieser Darstellungen trägt er eine lange Robe mit goldenem Gürtel.

Eine der bekanntesten Varianten dieses bekleideten Gekreuzigten ist das Volto Santo („heiliges Gesicht“) in Lucca in der Toskana. Und dieses soll nach der gängigen Erklärung auch der Ursprung des Kümmernis-Kults sein. Nachahmungen des Volto Santo hätten sich als kleine Gebetsbilder oder Ähnliches über ganz Europa verbreitet und seien von den Gläubigen, die keine gewandeten Jesus-Darstellungen kannten, fälschlicherweise als weibliche Figuren interpretiert worden.

Gemälde der heiligen Kümmernis

Werner Schwarz

Darstellung der heiligen Kümmernis, 18. Jhdt., Troyenstein (Südtirol)

Der arme Geiger

Für diese Deutung spricht auch noch eine weitere Figur, die oft zusammen mit der heiligen Kümmernis abgebildet wird: Neben dem Kreuz findet sich immer wieder ein Geiger, meist in Verbindung mit einem Schuh, der der Gekreuzigten fehlt. In der Kümmernis-Geschichte wird auch dies unterschiedlich ausgelegt, meistens aber so, dass der Geiger als Lohn dafür, dass er sie mit seiner Musik am Kreuz begleitet, einen silbernen oder goldenen Schuh als Belohnung erhält. Der Geiger wird daraufhin für einen Dieb gehalten, bekommt aber vor den Augen derer, die dies behaupten, auch noch den zweiten Schuh geschenkt.

Auch dieses Motiv gab es schon früher in Verbindung mit dem Volto Santo von Lucca. Dort wird schon im 12. Jahrhundert von einem Wunder berichtet. Ein armer, aber sehr frommer Pilger, der das Kruzifix verehrte, soll von diesem auf wundersame Weise einen silbernen Schuh geschenkt bekommen haben. Der Schuh und der arme Mann bzw. später der Geiger stellen also eine weitere Verbindungslinie zwischen der weiblichen Gekreuzigten nördlich und dem männlichen Gekreuzigten südlich der Alpen dar.

Weite Verbreitung

Ungeachtet der Ursprünge zeugen bis heute zahlreiche Darstellungen der bärtigen Jungfrau am Kreuz davon, dass die Legende im Europa des Mittelalters sehr weit verbreitet gewesen sein dürfte. Sehr frühe Belege finden sich etwa in den Niederlanden, wo die bärtige Heilige als „Ontcommer“ bekannt war, oder aus England, wo sie „Uncumber“ hieß. Beide Namen weisen auf die Funktion hin, die der Märtyrerin zugeschrieben wurde: „Entkümmerung“, also die Befreiung von Lasten und Sorgen.

Auch im deutschsprachigen Raum, vor allem in Tirol und Bayern, gab es zahlreiche Stätten, die der rätselhaften gekreuzigten Jungfrau geweiht waren. Die Kunsthistorikerin Ilse E. Friesen hat 2001 in ihrem Buch „The Female Crucifix“ Kümmernis- und Wilgefortis-Kulte in ganz Europa untersucht und widmet Kümmernis-Darstellungen in Tirol ein eigenes Kapitel.

In mühsamer Kleinstarbeit und vielen Recherchereisen habe sie Belege für die heilige Kümmernis aus entlegenen Kapellen, Kirchendachböden und Diözesanarchiven zusammengetragen, schreibt Friesen im Vorwort ihres 2001 veröffentlichten Buchs. Die Historikerin zeichnet die Entwicklung des Kults vom 14. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach und geht dabei auch auf die Verbindung zum Volto Santo von Lucca ein.

Gemälde der heiligen Kümmernis

Werner Schwarz

Darstellung der heiligen Kümmernis, 1751, Neufahrn (Bayern)

Der androgyne Christus

Friesen beschreibt im Zuge dessen aber nicht nur die Entwicklung des Motivs der bärtigen Frau. Sie stellt diese auch in einen breiteren Zusammenhang, der durchaus Parallelen zu Conchita Wursts Botschaft von Gleichberechtigung und Toleranz zulässt. Im Mittelalter, so Friesens These, seien bei Jesus-Darstellungen die Geschlechtergrenzen langsam verschwommen. Bilder oder Skulpturen, die Jesus mit weiblichen Attributen - seien es Brustansätze, lockiges Haar, Gesichtszüge, Figur oder Kleidung - zeigten, seien auch abseits der heiligen Kümmernis keine Seltenheit, schreibt sie, untermauert von zahlreichen Beispielen.

Zurückzuführen seien diese weiblichen Merkmale keineswegs auf Unachtsamkeiten oder fehlende Kompetenz der Künstler, sondern tatsächlich auf eine konkrete mythische Grundlage. Schon in vorchristlichen Religionen - etwa in der griechischen Mythologie - gebe es Gottheiten, die androgyn dargestellt wurden, um ihre göttliche Vollkommenheit darzustellen.

Auch im Christentum sei das in Bezug auf Jesus geschehen, so Friesen. „Er war männlich in dem Sinn, dass er der Sohn Gottes und Marias war. Gleichzeitig aber wurde sein Körper aber auch für weiblich gehalten, indem sein Fleisch aus dem Schoß seiner Mutter geformt wurde“, schreibt sie.

Buchcover "The Female Crucifix"

Wilfried Laurier University Press

Buchhinweis:

Ilse E. Friesen: The Female Crucifix. Images of St. Wilgefortis Since the Middle Ages
Wilfried Laurier University Press, 2001

Geheimkult und Bilderverbrennungen

In der katholischen Amtskirche sei das freilich gar nicht gut angekommen, sagt die Autorin im Gespräch mit religion.ORF.at. Die Verehrung der bärtigen Frau sei zwar weit verbreitet gewesen, dennoch handle es sich um eine Art „Geheimkult“. „Die Kirche hat ja immer wieder auch Bilder der heiligen Kümmernis verbrennen lassen“, so Friesen.

In den zahlreichen Darstellungen, die sie aufgespürt hat, sieht die Kunsthistorikerin deshalb auch keine offenen Provokationen seitens der Künstler, sondern Bilder, in denen jeder das sehen konnte, was er sehen wollte. Auf der einen Seite wurde das Tabu eines weiblichen Christus gebrochen, während gleichzeitig die Rechtfertigung, es handle sich tatsächlich um eine Christusdarstellung, möglich blieb.

Friesen verweist in diesem Zusammenhang unter anderem auf einen Holzschnitt des Künstlers Hans Burgkmair, der vermutlich Anfang des 16. Jahrhunderts entstand. Das Besondere: Der Künstler selbst schreibt im Begleittext der Tafel, dass sowohl St. Kümmernis als auch Christus in Form des Volto Santo von Lucca dargestellt werden sollten. Für Friesen gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten: Einerseits könnte der Holzschnitt belegen, wie normal diese Verbindung damals war. Andererseits könne es sich auch um den Versuch des Künstlers handeln, die Grenzen der politischen Möglichkeiten auszuloten.

Mittelalterlicher Feminismus

Generell stellt Friesen die Geschichte der heiligen Kümmernis in einen feministischen Kontext. Der Legende liege das Bedürfnis nach einer weiblichen Christusfigur zugrunde, auch wenn man nicht genau sagen könne, wo die Geschichte vom König und seiner widerspenstigen Tochter herkomme.

Die heilige Kümmernis entspringt demnach dem Bedürfnis einer gesellschaftlich marginalisierten Gruppe nach Selbstbestimmung und Gleichberechtigung. Auch wenn die Umstände mit der Gegenwart kaum vergleichbar und die Parallelen zufällig sind, dieser Grundgedanke gilt wohl auch für die derzeit bekannteste bärtige Frau des 21. Jahrhunderts.

Michael Weiß, religion.ORF.at

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