Faszination des Unerklärlichen: Fußball als Religion

Wenn Menschen in Stadien pilgern, Jahrhunderttalenten huldigen und nach Niederlagen ihres Teams mit dem „Fußballgott“ hadern, dann ist Fußball-WM. Zu keiner anderen Zeit wird deutlicher, wie nahe sich Sport und Religion sind.

Achtelfinale, Argentinien gegen die Schweiz. Es ist ein Kampf auf Biegen und Brechen, erst nach 118 Minuten fällt das 1:0 für die Südamerikaner. Kurz vor Schluss haben die Schweizer dann noch die Chance, sich ins Elfmeterschießen zu retten. Blerim Dzemaili kommt direkt vor dem Tor zum Kopfball, doch der Ball prallt von der Stange ab. Sekunden später stehen die Argentinier im Viertelfinale. Der „Pfosten Gottes“ („El Palo de Dios“) habe sie gerettet, schreibt die Zeitung „Ole“ aus Sao Paulo am nächsten Tag. Auch von einer „Intervention“ des argentinischen Papstes ist die Rede - im Internet kursiert eine Fotomontage, auf der er den Ball abwehrt.

Ein Spieler der Schweiz nach dem Kopfball, fotografiert durch das Tornetz

Reuters/Eddie Keogh

Blerim Dzemaili köpfelt gegen Argentinien an den „Pfosten Gottes“

Es ist nicht das erste Mal: Immer wieder werden knappe Entscheidungen im Fußball mit Verweisen auf das Übernatürliche kommentiert. Ganz Deutschland erinnert heute noch gern an den Sieg bei der WM 1954 gegen die hochfavorisierten Ungarn, das „Wunder von Bern“. Und als Diego Maradona im Viertelfinale der WM 1986 gegen England nach einem Handspiel das entscheidende Tor erzielte, sprach er selbst nach dem Spiel von der „Hand Gottes“ - wohl das Vorbild für die Schlagzeile aus Sao Paulo nach dem Achtelfinal-Sieg der Argentinier.

Religiöse Gesten verboten

Viele der Akteure bei der aktuellen WM sind tief religiös, auch wenn sie das seit 2009 nicht mehr auf dem Platz zeigen dürfen. Damals, unmittelbar vor der WM in Südafrika verbot der Fußballweltverband (FIFA) nämlich religiöse Bekenntnisse im Freudentaumel nach einem Tor. Vor allem brasilianische Fußballer hatten immer wieder Aufmerksamkeit erregt, weil sie unter ihren Trikots Shirts mit christlichen Botschaften trugen und diese nach einem Torerfolg zur Schau stellten. Was für den einen ein Bekenntnis sei, könnten andere als Provokation empfinden, so die offizielle Begründung der FIFA damals.

Dennoch: Religiöse Symbolik ist nach wie vor nahezu allgegenwärtig. Vor und nach den Spielen bekreuzigen sich viele Spieler, und auch während des Spiels sind Blicke gen Himmel oder nach oben gerichtete Zeigefinger eindeutige Gesten, die kaum von einem Verbot erfasst werden können.

Rapid-Fans halten Plakate mit Porträt von Gerhard Hanappi und Aufschrift "1977-2014"

APA/Herbert Pfarrhofer

Das choreographierte Abschiedsritual der Rapid-Fans für „St. Hanappi“

Das Spiel an sich kann ebenso als Ritual mit religiösen Zügen verstanden werden. Es gibt klare Regeln und mit dem Schiedsrichter einen Akteur, der über dieses Regelwerk wacht. Für Leopold Neuhold, Leiter des Instituts für Ethik und Gesellschaftslehre der Universität Graz und seit Jahren mit den sozialen Dimensionen des Fußballs beschäftigt, ist der Schiedsrichter insofern mit einem religiösen Führer zu vergleichen. „Er trifft Tatsachenentscheidungen, die nicht zu hinterfragen sind - wie der Papst“, so Neuhold gegenüber religion.ORF.at

Die Fans im Fokus

Die religiöse Phänomenologie des Fußballs endet aber nicht auf dem „heiligen Rasen“. Aus religionswissenschaftlicher Sicht seien die Fans sogar wesentlich spannender als das Geschehen auf dem Platz, sagt Hans Gerald Hödl vom Institut für Religionswissenschaft der Universität Wien. „Die Spieler sind Akteure in einem rituellen Geschehen, die Fans aber sind diejenigen, für deren Leben dieses rituelle Geschehen Bedeutsamkeit hat. Ohne die Teilnahme der Fans, ohne den wichtigen Stellenwert von Fußball in deren Leben, gäbe es keine ‚Gemeinde‘.“

Und das ist nicht nur während der WM so. Auch die Fans von Rapid-Wien gingen in der vergangenen Jahren nicht einfach ins Stadion, sie „pilgerten“ nach „St. Hanappi“. Das letzte Spiel im Hanappi-Stadion am vergangenen Sonntag wurde dementsprechend als große Abschiedsfeier inszeniert, die die Bedeutung des quasi-sakralen Orts noch einmal unterstrich.

Gemeinsame Choreografien und Hymnen prägen die öffentlichen Auftritte vieler Fangruppen. In ihren Ritualen bedienen sie sich offensichtlich religiöser Vorbilder - die Fans des deutschen Bundesligisten Schalke 04 beten etwa vor jedem Spiel das „Schalke Unser“. Aber erfüllen diese Phänomene tatsächlich ähnliche Funktionen wie religiöse? Ist ein Match mit einem Gottesdienst vergleichbar? Ein Fußballschlachtgesang mit ekstatischer Trommelmusik? Die Gemeinschaft der Fußballfans mit einer Kirche?

Religionsersatz Fußball?

Auf der deutschen Website Sozialwissenschaftliche Fußballforschung haben Mathias und Mike S. Schäfer 2009 die Funktionen des Fußballs für die Fans untersucht und sie mit jenen verglichen, die der Religion zugeschrieben werden. Ihr Resultat: Einige Funktionen, etwa die Gemeinschaftsstiftung und die Strukturierung des Alltags, stimmen überein. Die Funktion der Religion für den Einzelnen, in schwierigen Situationen Halt zu geben und Erklärungen für Unerklärliches zu liefern, könne der Fußball aber nur in seltenen Fällen ersetzen.

Französische Fans trauern

Reuters/Robert Pratta

Fußball als Kontingenzerfahrung: Französische Fans nach dem Viertelfinal-Aus gegen Deutschland

„Fußballfantum teilt jedenfalls die klassische Funktion von Religionen, die schon bei Emile Durkheim beschrieben wird, nämlich Gruppenbindungen zu etablieren“, sagt Hödl gegenüber religion.ORF.at. Es gebe auch Menschen, für die Fußball ein Sinnstiftungssystem darstelle. „Allerdings wird man sich fragen, inwiefern dieses Sinnstiftungssystem die Fragen beantwortet, die klassischerweise von Religionen beantwortet werden, wie das nachtodliche Schicksal des Menschen oder die Bewältigung von negativen Kontingenzerfahrungen wie zum Beispiel Katastrophen, Krankheit oder unzeitiger Tod.“

Faszination durch Unvorhersehbarkeit

Für Neuhold hat Fußball trotzdem etwas mit der Bewältigung von derartigen Erfahrungen zu tun. Zwar könne der Fußballfan aus dem Sport in der Regel nicht die Kraft beziehen, mit den Niederlagen des Lebens fertigzuwerden. Allerdings gebe es innerhalb des Sports ebenfalls Enttäuschungen zu bewältigen. Wie die Menschen damit umgehen, ist für ihn die interessanteste Fragestellung in Bezug auf die religiösen Dimensionen des Fußballs.

Gleichzeitig sei dieser Aspekt - zusammen mit der weltweiten Popularität - ausschlaggebend dafür, dass beim Fußball öfter von Religion gesprochen werde als bei anderen Sportarten. „Ein einziges Tor kann entscheidend und gleichzeitig furchtbar ungerecht sein“, sagt Neuhold. Fußball sei aufgrund der geringen Anzahl der spielentscheidenden Szenen unvorhersehbarer als andere Sportarten, und genau diese Eigenschaft trage enorm zur Faszination, aber auch zur Konfrontation mit dem Unerklärlichen und Ungerechten bei.

Der vergöttlichte Mensch

Das Unerklärliche, Übernatürliche oder Transzendente steht auch in der Religion im Zentrum, vor allem wenn man sie über Inhalte statt über Funktionen definiert. Religion wird dann nicht als ein Phänomen beschrieben, das für den Menschen die eine oder andere Aufgabe erfüllt, sondern - wie Hödl sagt - als „Verkehr mit kulturell postulierten übermenschlichen Wesen“.

Auch das könne man in Bezug auf den Fußball feststellen, denn „dazu gehören auch Ahnen oder vergöttlichte Menschen, wie die Heroen im antiken Griechenland, die katholischen Heiligen in der ‚Volksreligion‘ oder auch einige westafrikanische Gottheiten.“ Wenn bestimmte Fußballspieler also „Kultstatus“ genössen, könne man mitunter von einem „Vergöttlichungsprozess“ sprechen.

Fußball als „Kontrastfolie“

Ob Fußball als Religion gesehen werden kann oder nicht, hängt also zwangsläufig damit zusammen, was man überhaupt unter Religion versteht. Für Hödl ist die Frage nach der Fußballreligion daher „paradigmatisch für das Problem einer zu engen oder zu weiten Religionsdefinition“. Gerade weil man im und um den Fußball viele religionsähnliche Phänomene vorfinde, sei dieser „eine Art Kontrastfolie, gegen die Religionswissenschaftler das spezifisch Religiöse an ihrem Forschungsgegenstand herausarbeiten können“.

Der Fußball ist für die Religionswissenschaft also nicht nur ein interessanter Forschungsgegenstand, sondern auch eine Hilfsmittel, um sich darüber klarzuwerden, wo man die Grenzen dieses Begriffs ziehen muss. Dementsprechend fällt Hödls Antwort auf die Frage, ob Fußball nun eine Religion sei, differenziert, aber doch eindeutig aus: „Fußball ist ein kulturelles Subsystem, das religiöse Aspekte aufweist und für bestimmte Individuen die Funktion von Religion erfüllen mag, aber nicht eigentlich als ‚Religion‘ betrachtet werden kann.“

Neuhold sieht das ähnlich, fügt aber noch eine ethische Komponente hinzu. Er findet nämlich, dass Fußball nicht Religion sein bzw. werden dürfe. „Fußball ist irrelevanter Krieg“, sagt er. Durch religiösen Eifer würde jedoch der Anhänger der gegnerischen Mannschaft zum Feind und der irrelevante zum relevanten Krieg. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Fans verschiedener Teams haben für ihn etwas von „Glaubenskriegen“. Und die gelte es zu vermeiden.

Michael Weiß, religion.ORF.at

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