Ruth Pfau ist 85: Ein Leben gegen Lepra

Seit 50 Jahren kämpft die deutsche Ärztin und katholische Ordensfrau Ruth Pfau in Pakistan gegen Lepra. Mit Erfolg: Die hoch ansteckende Krankheit hat dort viel von ihrem Schrecken verloren. Heute feiert Pfau ihren 85. Geburtstag.

Als Ruth Pfau vor fünfzig Jahren in Pakistan landete, war ihr Ziel eigentlich Indien und die Reise sollte dorthin fortgesetzt werden. Doch die junge, resolute Frau wollte an den zahlreichen Leprakranken in Pakistan nicht untätig vorbeigehen. So blieb Ruth Pfau und begann ihren Kampf gegen Lepra mit dem Bau des Krankenhauses Maria Adelaid Lebrocy Center (MALC) in Karachi.

Video-on-Demand
Das Wirken der Ordensfrau und „Lepra-Ärztin“ Ruth Pfau
(Orientierung vom 17. August 2014)

Was anfangs einem hoffnungslosen Kampf gegen eine hochansteckende Krankheit gleichkam, hat fünf Jahrzehnte später der Lepra in Pakistan den Schrecken genommen. Ruth Pfau ging es nie nur um das Behandeln von Symptomen. Sie wollte das Übel immer an den Wurzeln packen. Das bezeugen ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Es gehe ihr um die Rechte der Armen auf medizinische Behandlung genauso wie um Bildung für Kinder oder auch um die Stellung der Frauen in der Gesellschaft.

Ärztin und Ordensfrau Ruth Pfau

ORF/Marcus Marschalek

Ruth Pfau besucht Lepra-Patienten im Maria Adelaid Lebrocy Center (MALC) in Karachi

Unterstützt werden die Ordensfrau und ihr Team dabei auch durch Spendengelder aus Österreich, etwa vom Aussätzigen-Hilfswerk und der Caritas. Im Mai hat Pfau als „Brückenbauerin und Einheitsstifterin“ für ihre langjährige Arbeit in Pakistan den Bischof-Klaus-Hemmerle-Preis erhalten. Am 9. September 2014 feiert sie nun ihren 85. Geburtstag.

Im religion.ORF.at-Interview erzählt Ruth Pfau von ihrem christlichen Engagement, ihrer Beziehung zu Gott, von Krisen und von der Schwierigkeit, Dinge zu lassen und zu übergeben.

Ärztin und Ordensfrau Ruth Pfau

ORF/Marcus Marschalek

Ruth Pfau im Interview mit religion.ORF.at

religion.ORF.at: Sie haben heute stundenlang kranken und bedürftigen Menschen zugehört, haben versucht, deren Probleme zu verstehen und Hilfe zu organisieren. Warum diese Menschenliebe? Was steckt da dahinter?

Ruth Pfau: Ich kann es einfach nicht ertragen, wenn Leute von normalen Rechten ausgeschlossen sind. Das macht mich einfach kribbelig. Wir können nicht jedem helfen. Aber so wie in dem biblischen Gleichnis vom barmherzigen Samariter geht es darum, dem zu helfen, an dem man gerade vorbeigeht. Und heute, bei unserem Besuch in einem Dorf bei Thatta, hatten wir eben zwei Möglichkeiten: Vorbeigehen oder uns um die Familie mit den kranken Kindern kümmern. Ich bin Christin, also habe ich mich um die Familie gekümmert.

Was macht Ihr Christsein aus? Ist es der Grund für ihr Gerechtigkeitsempfinden, ihr Engagement?

Ich bin erst spät - als junge Erwachsene - Christin geworden und ich bin es zweifellos auch wegen der Ungerechtigkeiten in der Welt geworden. Als Kind habe ich den Zweiten Weltkrieg erlebt. Damals ging ich jedes Mal auf dem Weg zur Oberschule an einem Kriegsgefangenenlager vorbei. Es brauchte nicht viel Intelligenz, um zu merken, dass da vieles in der Welt nicht stimmte, schlimm im Argen lag.

Ich kann bis heute nicht verstehen, warum manche denken, dass die Dinge in Ordnung wären. Es stimmt so vieles nicht! Und wenn man Leid, Ungerechtigkeiten und Armut beenden kann, sollte man das tun. Man kann entweder die Augen verschließen oder sich engagieren. Ich kann aber als Christin die Augen nicht zumachen. Da hätte ich keinen Appetit mehr und könnte ganz bestimmt nicht mehr in Ruhe schlafen.

Ärztin und Ordensfrau Ruth Pfau

ORF/Marcus Marschalek

Ruth Pfau will ihre Augen nicht vor dem Leid in der Welt verschließen. Dort, wo man etwas ändern kann, soll man etwas ändern, lautet ihr Credo

Sie haben die vergangenen 50 Jahre als Christin in einem muslimischen Land gelebt, der Großteil ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind Muslime. War das schwierig?

Ich kann nicht erwarten, dass Muslime mich verstehen. Für sie ist vieles, was ich glaube, Blasphemie. Etwa, dass der Sohn Gottes in einem Stall geboren wurde, das ist für sie wirklich ein Skandal und die ganze Kreuzigungsgeschichte sowieso ungeheuerlich. Was soll ich den Muslimen also erzählen? Aber es heißt ja: „Gebt mit euern Taten Zeugnis von eurem Glauben.“ Also versuche ich, nicht viel zu reden, sondern zu tun.

Vieles, was sie in Pakistan tun, ist für Frauen absolut unüblich. Wie ist es Ihnen damit gegangen, hatten Sie Probleme etwa mit muslimischen Männern?

Zum Glück war ich, als ich hierher kam, wahnsinnig naiv. Ich wusste vieles einfach nicht. Ich setzte mich zum Beispiel im Auto neben den Fahrer, was eine pakistanische Frau nicht machen würde. Aber die Männer haben es akzeptiert. Und so sitze ich noch heute neben dem Fahrer im Jeep und viele sagen: „Das macht die Pfau um zu beweisen, dass sie alles durchsetzt, was sie will.“ Als weiße Europäerin musste ich mich nicht wie eine farbige Pakistani an alle Regeln halten. Geholfen hat auch, dass ich Ordensfrau bin.

Ärztin und Ordensfrau Ruth Pfau

ORF/Marcus Marschalek

Tausende Kilometer legt Ruth Pfau jedes Jahr in Pakistan zurück

Dennoch hat mir, ganz am Anfang meiner Zeit in Pakistan, ein hoher Beamter angeboten, mich nach Hause zu fahren. Zuerst dachte ich: „Oh gut, der ist ja wirklich sozial veranlagt.“ Dann, um Himmels Willen, hatte ich meinen Not, bis er verstanden hatte, dass ich nicht zu haben war. Ich war dann vorsichtiger.

Oben im Himalaja-Gebirge war es einmal sehr, sehr kalt und wir hatten nur einen Raum zum Übernachten. Darin sollte natürlich ich schlafen, und meine männlichen Mitarbeiter gingen alle raus auf den eisigen Balkon. Ich habe sie dann wieder hereingeholt. Wir haben Tannenzapfen gesammelt, sie ins Feuer geworfen und hatten alle ein erholsame Nacht. Ich als Frau mit lauter Männern in einem Zimmer - eigentlich undenkbar, doch ich habe oft Dinge getan, die eigentlich undenkbar waren.

Sie bezeichnen Gott als Ihre „große Liebe“. In Ihren Büchern erzählen Sie von Zwiegesprächen mit Gott. Wurden Sie von Ihrer „großen Liebe" auch schon einmal enttäuscht?“

Christ zu sein ist ein total verrücktes Unternehmen, und es ist nicht einfach. Aber große Dinge bekommt man eben nicht ohne Preis. Gott ist Gott. Wie soll ich Ihn durchschauen? Ich hoffe, dass Er mich nur deshalb immer wieder in Krisen schickt, um mich voranzubringen. Es hat mir schon immer gut gefallen, dass Thomas von Aquin am Endes seines Lebens gesagt haben soll: „Alles, was ich geschrieben habe, ist ein Unsinn, der es nicht wert ist, gelesen zu werden.“ Das ist wahrscheinlich das Fazit von jedem, der es versucht. Ich glaube, dass das Christsein von vielen Menschen als viel zu naiv, bürgerlich, risikolos angesehen wird.

Wieso Gott die Idee gehabt hat, mit uns zu kommunizieren, das ist für mich total unverständlich. Wie soll ich Gott, meine große Liebe, verstehen? Ich habe aber immer noch die Freiheit zu sagen: „Jetzt langt’s mir!“

Gibt es diese Momente, wo es ihnen langt?

Natürlich. Das bedeutet, ich komme der Wahrheit höchstwahrscheinlich näher. Ich weiß nicht, wie man Christ sein kann, ohne in ständiger Krise zu leben. Eigentlich ist das Christsein zu viel für uns Menschen. Es ist von der Idee, vom Anspruch her zu viel. Etwa die Auferstehung Jesu: Die hat die Jünger Jesu schon damals überfordert. Sie glaubten zunächst die Geschichte vom leeren Grab nicht. Und dann hat der Auferstandene versucht sich ihnen irgendwie zu erklären.

Und was hat er gesagt? Er hat kein theologisches Traktat über die Auferstehung gehalten, sondern einfach gefragt: „Habt ihr was zu essen?“ Und sie gaben ihm ein Stück gekochten Fisch, den er in ihrer Gegenwart aß. Ich bin froh über diesen Ausweg, dass ich nicht alles theologisch begreifen und verstehen muss. Es reicht ein Stück Fisch, das man mit dem Nächsten teilt.

Ärztin und Ordensfrau Ruth Pfau

ORF/Marcus Marschalek

Ruth Pfau untersucht an einer Patientin eine unbekannte Krankheit mit lepraähnlichen Symptomen

Wenn Sie auf fünfzig Jahre in Pakistan zurückblicken, was waren erfüllende Momente für Sie?

Zuletzt heute Morgen der Sonnenaufgang. Pakistan ist ein wunderschönes Land. Auch die Kinder erfüllen mich, die sind so hinreißend! In unserem neuen Spielraum im MALC-Spital in Karachi haben gestern zwei blinde Kinder zum ersten Mal Holzklötzchen übereinander gesetzt und einen Turm gebaut. Die hatten zuvor noch nie Spielzeug gehabt, und sie konnten es gar nicht glauben, wie der Turm größer und größer wurde. Diese Momente finde ich absolut herrlich.

Ihre Organisation MALC ist mit rund 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in ganz Pakistan vertreten. In allen Führungspositionen sind Einheimische. Sie sind die einzige Deutsche und haben die Leitung schon vor einiger Zeit an Ihren Nachfolger übergeben. Wie war das Loslassen für Sie?

Immer, wenn ich meine, nicht etwas Besseres zu bekommen, fällt es mir sehr schwer, Dinge zu lassen. Aber oft muss man bloß besser hinschauen, dann sieht man auch, dass man etwas Besseres dafür bekommt. Davon bin ich überzeugt: Gott nimmt einem nie etwas, ohne einem etwas Wichtigeres anzubieten.

Ich habe mit 65 Jahren meine Koffer gepackt und bin hier von meinem Arbeitsplatz im MALC-Spital in Karachi ausgezogen und zurück in mein Kloster gegangen. Doch ich kann nicht wie eine Matrone auf dem geflochtenen Bett stillsitzen und mich füttern lassen. In Pakistan ist noch so viel zu tun.

Mervyn Lobo, mein Nachfolger, hat mich zurückgeholt. Man tritt hier anders in den Ruhestand als zu Hause in Deutschland. So bin ich wieder in meiner kleinen Wohnung im MALC-Spital gelandet und helfe jeden Tag mit, habe Ideen, wie man bestimmte Patienten behandeln könnte, oder versuche Geld für das eine oder andere Projekt aufzutreiben. Das ist für unser Team nicht immer einfach. Die deutsche und die pakistanische Art, Dinge zu regeln, sind teilweise sehr verschieden. Ich habe mich nach 50 Jahren noch immer nicht daran gewöhnt.

Ärztin und Ordensfrau Ruth Pfau

ORF/Marcus Marschalek

Im Maria Adelaid Lebrocy Center wird Ruth Pfau von allen nur „Doctor“ gerufen

Ich halte meinen Nachfolger Mervyn Lobo für einen extrem klugen und fähigen Menschen. Wir treffen uns täglich und besprechen die Dinge. So gelingt es, Unstimmigkeiten auch immer wieder auszubügeln. Aber es ist nicht leicht, Verantwortung zu übergeben, Dinge zu lassen.

Ich bin sehr sehr froh, dass ich die Chance bekommen habe, nach Pakistan zu kommen. Ich wollte mich in meinem Leben nicht langweilen, also bin ich katholische Christin geworden, das schien mir Garantie für ein spannendes Leben. Und bei Gott, bis heute war mir nie langweilig!

Marcus Marschalek, religion.ORF.at

Links:

Mehr dazu: