Historiker: Turiner Grabtuch mittelalterliches Ritualobjekt

Der britische Historiker Charles Freeman hat eine neue Theorie über das umstrittene Turiner Grabtuch vorgelegt. Er hält es für wahrscheinlich, dass das Tuch im Mittelalter für Osterrituale hergestellt wurde.

Eines macht Freeman in seinem Artikel in der Zeitschrift „History Today“ relativ schnell klar: Dass das Grabtuch von Turin tatsächlich vor knapp 2.000 Jahren im Grab von Jesus Christus lag, hält er für ausgeschlossen. Dass es eine Fälschung ist, die diesen Eindruck erwecken sollte, glaubt er aber ebenfalls nicht. Also stellt er sich vor allem die Frage: Was dann?

Freeman bezieht sich vornehmlich auf die ältesten noch erhaltenen Erwähnungen und Abbildungen des Leinentuchs, die aus dem 14. Jahrhundert stammen. Seine Untersuchung deckt sich also mit den Ergebnissen der vom Vatikan beauftragten Radiokarbondatierung aus dem Jahr 1988, die ebenfalls eine Entstehung des Tuchs im 14. Jahrhundert nahegelegt hatte.

„Es gibt genug Unsicherheit über den Ursprung dieses Tuchs, dass manche überzeugt sind, es handle sich tatsächlich um das Grabtuch Jesu. Das Mysterium wird noch verstärkt durch die Behauptung, dass kein anderes Artefakt so intensiv erforscht worden sei“, schreibt er. „Wenn man aber die Bandbreite der Untersuchungen in Betracht zieht, ist es offensichtlich, dass viele Aspekte seiner Geschichte und der Ikonografie noch nicht vollständig erschlossen sind.“

Das Turiner Grabtuch (Ausschnitt)

Reuters/Claudio Papi

Das Grabtuch von Turin

Mit der Zeit verändert

Zum Beispiel scheine sich bisher niemand ernsthaft Gedanken darüber gemacht zu haben, welche Art von Webstuhl - antik oder mittelalterlich - zur Erstellung eines Tuchs dieser Größe notwendig gewesen sei, schreibt Friedman. „Und niemand hat sich die vielen frühen Abbildungen und Beschreibungen des Tuchs genau angesehen, die Merkmale beschreiben, die heute nicht mehr zu sehen sind.“

Das Tuch, so seine These, habe im Mittelalter nämlich völlig anders ausgesehen als heute. Zum Beispiel habe es eine Dornenkrone gezeigt, sowie deutliche Folter- und Blutspuren. „Erstaunlicherweise scheinen sehr wenige Forscher zu berücksichtigen, dass das Tuch im 16. und 17. Jahrhundert völlig anders ausgesehen hat als das Objekt, das wir heute sehen“, schreibt Freeman.

Verschwundenes Blut

Vor allem das Blut, das heute fast überhaupt nicht mehr zu sehen ist, werde in den frühen Beschreibungen des Tuchs besonders betont. Für Freeman ist das ein zusätzliches Indiz für eine Entstehung des Tuchs im 14. Jahrhundert. Denn genau zu dieser Zeit habe die Darstellung von Wunden und Blut in Abbildungen der Kreuzigung und Grablegung Jesu massiv an Bedeutung gewonnen.

Es gibt aber noch weitere ikonografische Merkmale, die für Freeman für eine Entstehung im Mittelalter sprechen. So sei der abgebildete Leichnam von Kopf bis Fuß mit Geißelmalen übersät. Auch diese Darstellungen seien erst im 14. Jahrhundert populär geworden.

An eine Fälschung, die bewusst zur Täuschung der Gläubigen produziert wurde, glaubt der Historiker dennoch nicht. Denn im Mittelalter, argumentiert er, habe jeder gewusst, dass Jesus laut Überlieferung in ein Leinentuch gewickelt wurde, aber sein Gesicht durch ein separates, kleineres Tuch bedeckt wurde.

„Wen sucht ihr?“

Doch das reicht Freeman noch nicht. Im zweiten Teil seines Artikels versucht der Historiker eine Antwort auf die Frage zu finden, zu welchem Zweck das Tuch geschaffen wurde. Gefunden habe er sie, wie er schreibt, bei der Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Osterritualen. Eines davon, das Ritual „Quem Queritis“ (Lateinisch für „Wen sucht ihr?“), sei eine Darstellung jener Bibelstelle, in der die Frauen am dritten Tag nach der Kreuzigung zum Grab kommen und dort eine Gestalt antreffen, die ihnen ebendiese Frage stellt: „Wen sucht ihr?“.

Freeman erklärt, dass für dieses Schauspiel im Mittelalter eigene Bereiche in den Kirchen abgetrennt wurden, um das Grab zu symbolisieren. Und Leinentücher gehörten dabei zur Grundausstattung. Sie seien von Darstellerinnen, die die drei (oder manchmal nur zwei) Frauen verkörperten, aus dem Grab genommen, zum Altar gebracht und vor dem Kirchenvolk zur Schau gestellt worden. Freeman zitiert mehrere Dokumente, die von derartigen Leinentüchern in verschiedensten Formen berichten, die bei diesem Ritual zum Einsatz kamen. Das Turiner Grabtuch, meint er, sei eines der letzten Relikte, die von diesem mittelalterlichen Ritual erhalten geblieben sind.

Michael Weiß, religion.ORF.at

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