Kremsmünster-Studie: Diagnose „Systemversagen“

„Systemversagen“ - so erklärt das Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) die über Jahrzehnte reichenden Missbrauchsfälle im oberösterreichischen Stift Kremsmünster.

Sendungslogo "Orientierung"

ORF

Sendungshinweis

Missbrauch im Stift Kremsmünster
„Orientierung“ am Sonntag, 29. März 2015, 12.30 Uhr, ORF 2
Wiederholung am 31. März 2015, 10.30 Uhr, ORF III

Nach dem Auffliegen der Affäre 2010 hatte das Stift das Institut mit einer Studie zur Aufarbeitung beauftragt. Im Projektbeirat waren Abt und Prior, drei IPP-Experten sowie fünf ehemalige Schüler vertreten. Den Kern der Untersuchung bilden Interviews mit ehemaligen Schülern, Patres und weltlichen Angestellten, die zwischen 1945 und 2000 im Stift tätig waren. Dabei wurden 350 Fälle sexueller, körperlicher oder psychischer Gewalt ausgemacht, 24 Personen wurden beschuldigt. Da es sich um keine repräsentative Umfrage handelt, besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Als Faktoren, die das Geschehene möglich gemacht haben, nannten die Sozialforscher einerseits den kirchlich-institutionellen Rahmen und die strenge Hierarchie. Aber auch mangelnde pädagogische Qualifikation, fehlende interne Kommunikation, Tabuisierung des Themas Sexualität sowie ein Elitedenken und „institutioneller Narzissmus“ - also der Wunsch, dass die eigene Einrichtung immer gut dasteht - spielten eine zentrale Rolle.

„Ungeschminkte und transparente Darstellung“

Prior Maximilian Bergmayr nannte die Studie eine „ungeschminkte und transparente Darstellung“, die dem Kloster einen Spiegel vorhalte: „Ja, es hat uns ziemlich geschleudert.“ Abt Ambros Ebhart betonte, man werde sich weiter der Auseinandersetzung stellen - sowohl im Konvent als auch im Stiftsgymnasium. Er will auch externe Hilfe für die Prävention in Anspruch nehmen. Auf Nachfrage sagte er, dass heute keine der in der Studie beschuldigten Personen mehr im Bereich der Schule tätig sei.

Stift Kremsmünster

APA/Rubra

Stift Kremsmünster

Ein Vertreter der Betroffenen warf dem Kloster vor, dass es über die Entscheidungen der Klasnic-Kommission hinaus keinerlei Entschädigung geleistet habe. Ebhart blieb dazu vage: „Ich bitte die, die noch Anliegen haben, sich an die Diözesane Kommission oder an die Klasnic-Kommission zu wenden.“

Ex-Schüler: „Feindselige Haltung“

Ehemalige Schüler kritisierten in einer schriftlichen Stellungnahme zudem, dass vieles, das bisher geschehen ist, „nur gegen den aktiven Widerstand aus dem Konvent und Gymnasium durchgesetzt“ worden sei. Im Stift herrsche „nach wie vor eine feindselige Haltung gegenüber kritischen Betroffenen und Absolventenvertretern“. Es gebe zwar viele Entschuldigungen, aber „kein offenes Eingeständnis der institutionellen Mitwisserschaft und aktiven Vertuschung“. Sie würden sich daher zivilrechtliche Schritte vorbehalten, für die die Studie eine „unmissverständliche Grundlage darstellt“.

Im Kloster habe es an Kommunikation, pädagogischer Ausbildung und sexueller Reife gefehlt, so das Resümee der IPP-Studie. Eltern hätten zu wenig Gespür gezeigt, aber auch Polizei und Staatsanwaltschaft wird eine „Teilschuld an der Nichtaufdeckung“ bis 2010 zugeschrieben.

Im Mittelpunkt der Studie steht die Aufarbeitung der Missbrauchs- und Misshandlungsfälle im Stift nach 1950, mit Schwerpunkt auf die Jahre 1970 bis 1990. Die Forscher haben 302 Berichte über insgesamt 350 Vorfälle sexueller, körperlicher oder psychischer Gewalt gesammelt. Sie stammen von 94 Zeugen bzw. Opfern und in ihnen werden 24 Personen, darunter 20 Patres, beschuldigt - ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Sexuelle Übergriffe

Ein Drittel der Berichte bezieht sich auf sexuelle Gewalt. Die Hälfte dieser Übergriffe gehe über Grenzverletzungen wie innige Umarmungen oder Küsse hinaus, heißt es. Sie seien als „Missbrauch mit direkten Manipulationen an den Geschlechtsorganen, einschließlich dem vollzogenem Beischlaf“ zu werten.

Von 1945 bis 1989 waren im Internat nur Ordensangehörige als Präfekten beschäftigt - 42 Prozent von ihnen zählen zu den Beschuldigten. Die Studie beschreibt ausführlich den Nährboden, auf dem ein derartiges System gedeihen konnte: Präfekten wurden von oben herab bestimmt, Fluktuation gab es kaum, ihre pädagogische Qualifikation war mangelhaft, sie waren oft überfordert und hatten keinerlei Privatsphäre.

Erlebtes wurde weitergegeben

Der „Totaleinsatz rund um die Uhr“ im Konvikt könne von weltlichen Erziehern, die selbst eine Familie haben, nicht verlangt werden, schrieb der zu zwölf Jahren Haft verurteilte Ex-Pater einmal in einem Jahresbericht. IPP erkennt darin im Licht des heutigen Wissenstandes „eine geschickte Täterstrategie“. Viele Präfekten waren selbst in Kremsmünster zur Schule gegangen und gaben die erlebte „Erziehungstradition“ weiter.

Anpassung an die vorgegebene Ordnung, Disziplin, Gehorsam Ausdauer, Fleiß, Respekt, Leistungs- und Unterordnungsbereitschaft - das waren der Studie zufolge die wesentlichen Ziele. Auch die Präfekten selbst standen offenbar unter Druck: Die Abteilungen hatten zu funktionieren, Supervision oder Teambesprechungen über anstehende Probleme gab es nicht.

Schüler als „Kapos“

Als weitere Ebene machten die Forscher das Senioren-System aus, das als „institutionalisierte Form der delegierten Gewaltausübung und des Denunziantentums“ erscheine: Senioren waren etwas ältere Schüler, die den Status eines Hilfspräfekten hatten und von mehreren Befragten mit „Kapos“ verglichen wurden.

Ein großes Problem stellte auch die Unwissenheit der Patres in Hinblick auf Sexualität dar: Die Mönche seien „oftmals auf keinem anderen Niveau als die 14-Jährigen“ gewesen, heißt es in der Studie. Tabuisierte Belange hätten aber oft die Eigenschaft, „sich irgendwo anders Bahn zu brechen“.

„Kreise des Schweigens“

Die Frage, warum die Aufdeckung so lange gedauert hat, illustrieren die Experten mit „Kreisen des Schweigens“: Schüler erzählten nichts, weil sie ihre Eltern nicht belasten wollten, aus Scham, Angst oder Verwirrung. Eltern waren zu wenig sensibel, hatten Angst um die heile Familienwelt und konnten sich schlicht nicht vorstellen, dass die honorigen Patres etwas Böses tun würden. Die Mönche wiederum vertrauten einfach auf die kirchliche Hierarchie. Hinzu kommt eine gewisse Elite-Mentalität im Stiftsgymnasium, nach dem Motto „Wer es geschafft hat, gehört zu den Gewinnern“.

Strategien des Zudeckens

Schwieriger zu erklären ist schon, warum auch Meldungen an weltliche Behörden oft im Sand verliefen: Im Stift fanden sich Dokumente, die zeigen, dass sich das Kloster mit den Anschuldigungen gegen fünf Patres befasst hat. Dabei erkannten die Forscher unterschiedliche Strategien des Zudeckens: So wurde beispielsweise ein Pater nach einer „vorgeschobenen Fachdebatte“ abgelöst. In einem anderen Fall heißt es, man müsse die Sache aus der Welt schaffen, „bevor Unberufene anstelle der obersten Stiftsstelle unser Gewissen erforschen“.

In einigen Interviews wurde der Verdacht geäußert, dass Alt-Kremsmünsterer Netzwerke im Sicherheitsapparat Aufdeckungen verhindert hätten. Die Studie erwähnt dabei etwa, dass 2008 bereits einmal ein Verfahren gegen den mittlerweile zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilten Pater eingestellt wurde. Dieser Vorgang könne „diesen Verdacht zumindest nicht entkräften“, so ihr Fazit.

religion.ORF.at/APA

Mehr dazu:

Links: