Theologe: Dschihadismus „aus Mitte der Gesellschaft“

Der deutsche Theologe Jürgen Manemann sieht im Interview mit dem Religionsmagazin „Orientierung“ die Wurzeln Jugendlicher, die in den Dschihad ziehen, nicht am Rande, sondern in der Mitte der Gesellschaft.

Mehr als 5.000 junge Menschen sind aus europäischen Ländern nach Syrien oder in den Irak gezogen, um an der Seite mit Dschihadisten des Islamischen Staats (IS) zu kämpfen. Der katholische Theologe Jürgen Manemann sieht die Gefahr, dass dieses Problem verdrängt wird und spricht von „nihilistischen Tendenzen“ in europäischen Gesellschaften.

Nihilistische Tendenzen

„Wir tun so, als ob diese jungen Menschen nicht aus der Mitte unserer Gesellschaft kommen und deswegen haben wir uns verschiedene Strategien angeeignet, um die Dschihadisten aus unserer Gesellschaft auszuschließen, wir gehen davon aus, dass sie vom Rande der Gesellschaft kommen, aber nicht aus der Mitte.“ Dschihadismus werde als „eingeschlepptes Virus“ betrachtet, sagt der deutsche Theologe Manemann, der das „Forschungsinstitut Philosophie Hannover“ leitet.

Jürgen Mannemann im Interview

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Der deutsche Theologe Jürgen Manemann sieht die Wurzeln Jugendlicher, die in den Dschihad ziehen, nicht am Rande, sondern in der Mitte der Gesellschaft

Europäische Gesellschaften müssten sich mit Exklusionsmechanismen auseinandersetzen und mit der Frage nach Sinn und Sinnlosigkeit, so der Theologe Manemann. „Junge Dschihadisten leiden unter nihilistischen Tendenzen in unserer Gesellschaft“, in der sich Sinnlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Lieblosigkeit ausbreiten würden.

Kampf vor Ort

Um Menschen vom Dschihadismus abzuhalten, müsse ein „Kampf vor Ort“ geführt werden, mit dem die Quellen der Faszination ausgerottet werden sollten. Dafür bräuchte es die Möglichkeit, zu erfahren, dass Gesellschaft veränderbar sei und dass es Alternativen gebe.

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Sendungshinweis

„Orientierung“ am Sonntag, 26. April 2015, 12.30 Uhr, ORF 2
Wiederholung am 28. April 2015, 10.35 Uhr, ORF III

Faszination Dschihad: Herausforderung für die Gesellschaft Europas

Nur die Erfahrung der Selbstwirksamkeit könne schließlich zu Selbstachtung führen. „Das benötigen junge Menschen, um die Kraft zu haben, gegen Leere und Exklusion anzugehen und ein starkes Selbst auszubilden“.

Blick in den eigenen Spiegel

Allerdings habe man verschiedene Strategien entwickelt, um „den Blick in den eigenen Spiegel zu verdrängen“. Manemann ortet vier Varianten von Erklärungsmustern für das Phänomen Dschihadismus: Diabolisierung, Ethisierung, Soziologisierung und Religionisierung.

Jede Perspektive mache Sinn, sei für sich alleine aber „nicht nur unzureichend, sondern irreführend“. Vorsicht sei auch dabei geboten, diese Form von Gewalt als „religiöse Gewalt“ zu beschreiben. Man übernehme dadurch die Ideologie der Täter.

Phantasieprodukt „Urislam“

Offensichtlich sei allerdings, dass sich der Dschihadismus der „Religion bedient“. Denn auch im sogenannten „Islamischen Staat“ gibt es Moscheen und Imame.

Hier werde jedoch ein Traditionalismus behauptet, der mit der Tradition nichts zu tun habe. „Da gibt es eine Vorstellung von einem Urislam, die ein Phantasieprodukt ist“, so der Theologe Manemann.

Sandra Szabo für religion.ORF.at

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