Wie der Vatikan Nazis zur Flucht verhalf

Adolf Eichmann, Josef Mengele, Ante Pavelic: Nach dem zweiten Weltkrieg verhalfen kirchliche Würdenträger Nazis zur Flucht nach Übersee - ein kaum thematisiertes Kapitel in der römisch-katholischen Kirchengeschichte.

Josef Mengele gilt als einer der grausamsten Verbrecher des Nazi-Regimes: Der Mediziner und Lagerarzt von Auschwitz führte zahlreiche Experimente an Menschen durch und verantwortete den Tod von Hunderttausenden Juden. Für seine Verbrechen musste sich Mengele nicht verantworten. Wie vielen anderen Kriegsverbrechern verhalf ihm ein breites Netzwerk der römisch-katholischen Kirche zur Flucht vor der alliierten Justiz. Die „Klosterroute“, später „Rattenlinie“ genannt, führte meist über den Brenner nach Südtirol und von Genua oft nach Argentinien.

Menschen überqueren den Brenner

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Flüchtlinge und Flüchtige nahmen den Weg über den Brenner nach Südtirol

Ein breites Netzwerk

Bei Kriegsende waren Millionen Menschen auf der Flucht: Überlebende des Holocaust, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und Vertriebene. Nazi-Täter, SS-Männer und ihre Kollaborateure aus ganz Europa hatten es relativ leicht, sich unter die Masse der Heimatlosen zu mischen.

Der Papst hatte der Päpstlichen Hilfskommission für Flüchtlinge die Zuständigkeit für die Unterstützung katholischer Flüchtlinge übergeben. Sie sollte Katholiken zur Emigration verhelfen, unterstützte dabei aber auch viele Flüchtige, der Justiz zu entkommen. Aufgrund der Empfehlungen der Hilfskommission stellte das Rote Kreuz zahlreiche Reisedokumente aus, die eine Auswanderung möglich machten. Sie lauteten oftmals auf falsche Namen. Die Hilfskommission wurde von Ferdinando Baldelli geleitet, der wiederum dem Pro-Staatssekretär Giovanni Battista Montini, dem späteren Papst Paul VI., unterstand. Das Geld für die Aktivitäten der Kommission floss aus dem Vatikan und zu einem großen Teil aus der katholischen Kirche in den USA.

Antikommunismus und Vergebung

Die Motive der kirchlichen Würdenträger waren unterschiedlich. Während einige Priester und Bischöfe mit den Nationalsozialisten sympathisierten, standen für andere politische Argumente wie Antikommunismus und theologische Argumente wie das der Vergebung im Mittelpunkt, erklärte Gerald Steinacher, Universitätsprofessor in den USA und Autor zahlreicher Publikationen zum Thema, gegenüber religion.ORF.at.

Sendungshinweis

„Kreuz und quer: Die Rattenlinie - Nazis auf der Flucht durch Südtirol“ ist am Dienstag um 22.35 Uhr in ORF2 zu sehen.

1945 habe sich die Frage gestellt, wie man mit den Tätern umgehen solle. Es habe Racheakte gegeben sowie Bemühungen – besonders der Amerikaner –, Rechtsstaatlichkeit walten zu lassen, also ordentliche Gerichte einzusetzen. Die Nürnberger Prozesse gegen einige Hauptkriegsverbrecher sind dafür nur das bekannteste Beispiel.

„Braune Schafe“ zurückholen

„Pius XII. war ein früher Kalter Krieger. Der Papst hat sicher nicht befohlen: Helft NS-Tätern zur Flucht! Aber die katholische Kirchenführung war meist deutlich gegen die alliierte Politik der Entnazifizierung und wollte die Deutschen so schnell als möglich wieder in die christliche Familie Europas einbinden und gegen den Kommunismus stärken“, so Steinacher. Viele „braune Schafe“ seien nun wieder „mit offenen Armen in der Kirche aufgenommen“ worden. Besonders die Vorstellung, dass die Kommunisten in Italien, „im Kernland des Katholizismus“, an die Macht kommen könnten, sei für den Papst unerträglich gewesen, so Steinacher.

Da sich der Nazismus als Irrlehre erwiesen hatte, habe die Kirche triumphiert und Vergebung als Weg für einen Neuanfang ausgewiesen. Vor diesem Hintergrund seien die Aktivitäten der Päpstlichen Hilfsstelle zu sehen und auch die zahlreichen Interventionen durch Bischöfe, Kardinäle und Priester für Nazis und Kriegsverbrecher bei Gerichts- und Entnazifizierungsverfahren, so Steinacher.

Der österreichische Bischof Alois Hudal war eine der zentralen Personen im kirchlichen Netzwerk für Fluchthilfe. Er half dem Kriegsverbrecher Franz Stangl, Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka, unter dem Namen Paul Stangl nach Buenos Aires zu fliehen. In Treblinka wurde rund eine Million Menschen ermordet. Im Fall von Hudal sei nicht nur ein starker Antikommunismus, sondern auch eine „gewisse Sympathie für den Nationalsozialismus“ ausschlaggebend gewesen, so Steinacher. Hudal hatte sich als eine Art Brückenbauer zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus gesehen.

Aus Nächstenliebe?

Die von ihm geleistete Fluchthilfe, sagte Hudal später, sei ein Akt der Nächstenliebe zu Menschen gewesen, die „vielfach persönlich ganz schuldlos, nur die ausführenden Organe der Befehle ihnen übergeordneter Stellen und so Sühneopfer für große Fehlentwicklungen des Systems waren“.

Johann Gamberoni, Priester und Kirchenhistoriker

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Priester Johann Gamberoni sprach in der „kreuz und quer“-Doku „Rattenlinie“ über Fluchthilfe

Nächstenliebe und die Pflicht, Menschen in Not zu helfen, seien die Motive für die Unterstützung der Flüchtigen gewesen: Das sagte auch der Priester und ehemalige Fluchthelfer Johann Gamberoni in der „kreuz und quer“-Dokumentation „Die Rattenlinie - Nazis auf der Flucht durch Südtirol“. Man habe sich nicht zum Richter machen wollen. Der Moraltheologe Martin M. Lintner, den Regisseurin Karin Duregger für ihre Dokumentation traf, kann das nicht nachvollziehen. Man habe die Täter davor bewahren wollen, bestraft zu werden, und die Opfer dabei vergessen. Es wäre vielmehr Aufgabe der kirchlichen Würdenträger gewesen, die Menschen „dazu zu bewegen, die Verantwortung zu übernehmen und Wiedergutmachung zu leisten“, so Lintner.

Juden und Nazis auf der Flucht

In Südtirol halfen zahlreiche Kirchen- und Ordensleute Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Kollaborateuren bei der Flucht nach Übersee: So versteckten sie die Flüchtigen etwa in Klöstern. Nach dem Zweiten Weltkrieg suchte eine Masse von Menschen den Weg raus aus Europa - darunter Juden und Christen, Faschisten und Nationalsozialisten. Ihre Wege kreuzten sich nicht zuletzt in Südtirol: Es kam vor, dass sich etwa Holocaust-Überlebende und Nazis zur selben Zeit im gleichen Flüchtlingsversteck aufhielten. Die Kirche half aber in erster Linie katholischen Flüchtigen und Flüchtlingen.

Johann Corradini, Stadtpfarrer von Sterzing, machte die Flucht von einem der Hauptorganisatoren des Holocaust, dem SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, möglich. Erich Priebke, der für die Ermordung von 335 Zivilisten (darunter viele Juden) verantwortliche SS-Offizier, konnte sich durch die Hilfe von Franziskanerpater Franz Pobitzer in Bozen verstecken und mit neuen Reisepapieren unter dem Namen Otto Pape nach Argentinien fliehen.

Nazis wurden Staatenlose

Nationalsozialisten fanden im vom Nachkriegschaos geprägten Südtirol eine günstige Chance für eine unkomplizierte Auswanderung. Das hatte verschiedene Gründe: Südtirol war ein idealer Zwischenstopp auf dem Weg von Deutschland zu den italienischen Überseehäfen wie Genua. Zudem hatte die lokale Bevölkerung Südtirols, von den italienischen Machthabern diskriminiert, nicht selten auch Sympathien für den Nationalsozialismus und half den Flüchtigen oft bereitwillig. Auch die staatsrechtliche Situation in Südtirol kam Flüchtigen zugute: Das 1939 geschlossene Hitler-Mussolini-Abkommen habe dazu geführt, dass 90 Prozent der Südtiroler die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft annahmen, sagte Steinacher.

Nach 1945 galten diese „Optanten“ für Deutschland meist als staatenlos, und Staatenlosigkeit war die Voraussetzung für die begehrten Dokumente des Roten Kreuzes. Mit Hilfe der Päpstlichen Hilfskommission für Flüchtlinge gaben sie sich oft als vormalige Italiener, nun Staatenlose aus.

Bis 1951 hatte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Rom und Genua mindestens 120.000 solcher Papiere für angeblich oder wirklich Staatenlose ausgestellt. Wie viele Verbrecher, Faschisten und Kollaborateure dadurch vor der Justiz fliehen konnten, sei schwer zu sagen, so Steinacher. „Die Zahlen waren wohl weit höher als bisher angenommen. Nur ein Beispiel: Nicht zuletzt durch die Fürsprache kirchlicher Würdenträger konnte die gesamte ukrainische, 9.000-köpfige Waffen-SS-Division ‚Galizien‘ nach Kanada ausreisen“, so Steinacher.

„Vatikan hielt sich bedeckt“

Die Fluchthilfe nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist heute ein recht gut dokumentiertes und wissenschaftlich aufgearbeitetes Kapitel Kirchengeschichte. In der breiten Öffentlichkeit sind diese Ergebnisse aber weniger bekannt, der Vatikan hielt sich in der Vergangenheit eher bedeckt. So sind „die Vatikanischen Archive für diesen Zeitraum für unabhängige Forscher nicht zugänglich“, sagte Steinacher.

„Mit Papst Franziskus könnte sich aber auch das ändern. Gerade hat er angekündigt, die Vatikanischen Archive über die Militärdiktatur in Argentinien zu öffnen“, so Steinacher. Die Aufarbeitung der Nachkriegszeit ist laut dem Historiker auch für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in Krisenregionen wichtig. „Die Frage ist: Wie geht eine Gesellschaft mit Schuld und Verantwortung um, besonders nach dem Ende einer blutigen Diktatur?“

Clara Akinyosoye, religion.ORF.at