Pariser Teenager und die Kraft der Zeitzeugen

Zur Eröffnung des Jüdischen Filmfestivals (JFW) 2015 hatte am Mittwoch der französische Film „Die Schüler der Madame Anne“ Österreich-Premiere. Die Eröffnungsrede hielt die Schriftstellerin Julya Rabinowich.

„Die Schüler der Madame Anne“ (Originaltitel: Les Heritiers) sind die elfte Klasse des Lyon-Blum-Gymnasiums, das 29 Nationalitäten und die entsprechenden unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründe unter einem Dach vereint.

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Jüdisches Filmfestival Wien
religion.ORF.at begleitet das Jüdische Filmfestival Wien als Medienpartner und berichtet über ausgewählte Programmpunkte.

Jüdisches Filmfestival Wien 2015

Die Schüler sind undiszipliniert und machen manchen den Lehrerinnen das Lehren praktisch unmöglich. Dementsprechend schlecht sind die Leistungen und Zukunftsaussichten der Jugendlichen.

Lehrerin, weil sie es gerne ist

Die Geschichte nimmt ihre langsame Wendung durch das Engagement einer Lehrerin, der Klassenvorständin und Geschichte-Professorin Anne Gueguen (Ariane Ascaride). Sie beschließt, die Klasse, im Gegensatz zu einigen ihrer Kollegen, nicht aufzugeben. Gueguen plant für die Schüler die Teilnahme am „Nationalen Studienwettbewerb zum Widerstand und zur Deportation“ (CNRD). Der Film basiert auf einer wahren Begebenheit, das Drehbuch schrieb Ahmed Drame, der auch den Muslim „Malik“ verkörpert. Drame war einer der „echten“ Schüler von „Madame Anne“.

Distanziert, aber doch neugierig nähern sich die Schüler ihrer Aufgabe und dem Thema. Nach und nach begreifen sie das Gewicht der Geschichte. Und Madame Anne glaubt an sie. „Aus der Wikipedia kann jeder etwas rauskopieren. Aber was habt ihr zu sagen?“, spornt sie die Jugendlichen an.

Die Schülerinnen der Madame Anne. JFW15

Neue Visionen Filmverleih

Provokant und aufmüpfig präsentiert sich die Klasse

Die letzten Widerstände fallen mit der Begegnung mit dem Zeitzeugen Leon Zyguel. Er schildert den Jugendlichen seine Erfahrungen im Konzentrationslager. Den meisten Schülern war nicht bekannt, dass es auch in Frankreich Lager gegeben hat.

„Wachsen und lernen“ und umgekehrt

Bis auf Olivier, der gerade zum Islam konvertiert ist, beteiligen sich alle an dem Projekt. Er findet sich in seiner neuen Rolle als Gläubiger nicht zurecht. Die aufmüpfige Melanie hat ihr Schlüsselerlebnis, als sie zufällig eine Rede der jüdischstämmigen Politikerin Simone Veil im Fernsehen sieht. Veil, die die KZ Auschwitz und Bergen-Belsen überlebte, hielt anlässlich der „Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ 2004 eine Rede vor dem Deutschen Bundestag.

Die Schülerinnen der Madame Anne. JFW15

Neue Visionen Filmverleih

Der Schauspieler („Malik“) und Drehbuchautor des Films, Ahmed Drame, mit Ariane Ascaride („Madame Anne“)

Langsam schafft es jeder Einzelne in der Gruppe, einen Zugang zu dem Thema zu finden, über Comics, den Besuch eines Holocaust-Mahnmals und andere Denkanstöße. Und die Schüler schaffen einen Zugang zum Lernen, zu ihren Interessen und entwickeln Vertrauen in sich selbst, als Individuen in der Gruppe.

Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart

„Die Schüler der Madame Anne“ bringen drei Aspekte des Lernens zum Ausdruck: Zum einen wird deutlich, was eine wohlwollende, an den Lernenden interessierte Lehrkraft zum Erfolg bringen kann. Die bockigen Spätpubertierenden beweisen, dass es nie zu spät ist, mit etwas (in diesem Fall mit dem Lernen) anzufangen. Drittens bestätigt die Geschichte des Films, dass die Erinnerungsarbeit für junge Menschen nicht nur notwendig ist, sondern lebensprägend sein kann.

Der Schwerpunkt des heurigen Jüdischen Filmfestivals, das bereits seit 1991 jährlich stattfindet, bis 2006 unter dem Namen „Jüdische Filmwoche Wien“, ist „Exil“. Das Festival will sowohl die jüdische Vergangenheit und Gegenwart beleuchten als auch Brücken zur aktuellen Situation schlagen. Eröffnungsrednerin Rabinowich erinnerte daran, dass „das Exil die Menschheit begleitet, seit es Heimat gibt“ und bedauerte, dass bis heute kein passender Umgang damit gefunden wurde.

Julya Rabinowich. JFW15

Julya Rabinowich

Julya Rabinowich ist Schriftstellerin, Dramatikerin und Malerin

Rabinowich, selbst im Alter von sieben Jahren von St. Petersburg nach Wien „umgetopft“, wie sie es bezeichnet, kann die Chancen, aber auch den Schmerz eines Neuanfangs nachempfinden. Sie fragt: „Wie kann es sein, dass an der ‚Wiege der Kultur‘ Tag für Tag Hilfesuchende elend zugrunde gehen?“ Die Künstlerin warnte, dass, wenn die Zeitzeugen, die die Schoah überlebten, langsam verschwinden, das Gefühl für das „Entwurzelte“ und Ungewisse verloren gehe.

„Wenn keiner mehr da ist, der uns warnen, der uns schildern kann, wie man sein Menschsein verliert, wird man noch mehr Angst vor fremden Stimmen haben“, so Rabinowich. Die Kraft eines Zeitzeugen und Holocaust-Überlebenden führt der Eröffnungsfilm des diesjährigen Festivals vor Augen.

Nina Goldmann, religion.ORF.at

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