Jüdisches Filmfestival ehrt Theodore Bikel

Mit der Österreich-Premiere des letzten Filmes, in dem er mitgewirkt hat, gedenkt das Jüdische Filmfestival eines großen Schauspielers, Sängers und Entertainers: Theodore Bikel.

Der Film „Theodore Bikel. In the Shoes of Sholom Aleichem“ ist eine Produktion aus dem Jahr 2014. Er erzählt die Geschichte von Bikel, der 1924 in Wien geboren wurde und mit seiner Familie nach dem Einmarsch deutscher Truppen 1938 vor den Nazis nach Palästina (heute Israel) floh. Im Exil startete Bikel seine internationale Karriere.

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Jüdisches Filmfestival Wien
religion.ORF.at begleitet das Jüdische Filmfestival Wien als Medienpartner und berichtet über ausgewählte Programmpunkte.

Jüdisches Filmfestival Wien 2015

Wer wird sich erinnern?

Sein Vater, erzählt Bikel, habe sterbend auf sein Bücherregal voller jiddischer Literatur gedeutet und gefragt: „Wer wird das jetzt lesen?“ Der Sohn hatte eine Antwort parat: „Ich, Papa. Ich und andere.“

Viele Jahre später, selbst alt geworden, ist Bikel nicht mehr so zuversichtlich: „Damals habe ich das gesagt, aber heute mache ich mir Sorgen. Was wird aus den Erinnerungen von gestern, aus dem Stedtl, aus der Sprache, in der man dort gelacht und geträumt hat? Und was wird aus den Erinnerungen an mich? Ein Schauspieler spielt im Moment. Was wird bleiben, was wird überdauern, wenn der Moment vorüber ist und die Theatersessel kalt sind?“

Sänger im Hohen Haus

2013 war Bikel noch einmal zu Besuch in Wien. Aus Anlass der Erinnerung an die Reichspogromnacht am 9. November trug er im Plenarsaal des Parlaments einige seiner Lieder vor. Eines davon – er hat es in den letzten Jahren oft und gerne gesungen - stammt von Phil Ochs: „When I’m gone“.

Schauspieler Theodore Bikel. JFW15

Reuters/Gus Ruelas

Theodore Bikel bei einer Veranstaltung der UCLA Akademie für Film in Kalifornien

Darin finden sich Zeilen wie: „Ihr werdet mich dieses Lied nicht mehr singen hören, wenn ich fort bin. Ich glaube, ich singe es besser, solange ich da bin.“ („And you won’t find me singin’ on this song when I’m gone, so I guess I’ll have to do it when I’m here.“) Es blieb Bikels letzter Auftritt in seiner Geburtsstadt. Sein Tod am 21. Juli machte die Pläne, ihn auch persönlich zum jüdischen Filmfestival einzuladen, zunichte.

Die Klage des Exils

Was bleibt, was wird überdauern? Zum Beispiel dieser Film. Bikel schildert darin Stationen seines Lebens. Aber das eigentliche Thema ist ein Anderer: der Schriftsteller Scholem Jankew Rabinowitsch (1859-1916), eher bekannt unter seinem Pseudonym Sholom Aleichem oder Scholem Alejchem. Der große Dichter des Jiddischen beschrieb auf meisterhafte und stets humorvolle Weise das Leben im jüdischen Stedtl Osteuropas – ein karges, ärmliches, hartes Leben, dem er viele schöne Seiten abgewinnen konnte.

Filmtipp:

„Theodore Bikel. In the Shoes of Sholom Aleichem“ wird beim Jüdischen Filmfestival erstmals in Österreich gezeigt: Mittwoch, 14. Oktober, 18.15 Uhr, Votivkino

Liebevoll zeichnet er die Charaktere der Menschen, die Würde, mit der sie erhobenen Hauptes ihr Elend ertrugen, aber auch kleine Schwächen wie den Hang zur Nörgelei. Seit mindestens 2000 Jahren, erfährt man in dem Film, befinde sich das Judentum im Exil. Die Klage und das Sich-Beklagen – auf jiddisch „kvetsh“ genannt - gehöre wesentlich zu dieser Erfahrung. Der kanadische Schriftsteller und Jiddisch-Experte Michael Wex bringt es auf den Punkt: „Ohne ‚kvetsh’ wäre es Tourismus, nicht Deportation.“ Selbst im Synagogengesang, erläutert ein Kantorenausbildner, spiele das „kvetching“ eine wesentliche Rolle. Die Klage wird hörbar im Gesang.

Kleiner Beginn, große Karriere

Theodore Bikel schildert, wie er sich im Alter von 16 an der landwirtschaftlichen Arbeit im Kibbuz hätte beteiligen sollen. Allerdings habe er dafür keinerlei Talent besessen und es daher vorgezogen, auf den Misthaufen in hebräischen Liedern die Arbeit zu preisen, die er nicht verrichtete.

Bikel zählte zu den erfolgreichen Exilanten. 29 Wörter umfasste sein erster Auftritt auf einer Bühne in Tel Aviv. Zufall oder nicht: das Stück war von Scholem Alejchem und wurde dessen berühmtestes: „Tewje, der Milchmann“ das auch die Textvorlage für den Musical-Welterfolg „Anatevka“ („The Fiddler on the Roof“) bildet. In seiner Karriere, die Theodore Bikel über London in die USA - nach Hollywood und an den Broadway - führte, wurde Tewje die Paraderolle seines Lebens. Über 2000 Mal spielt er den Milchmann.

Scholem Alejchem und das Jiddische

Scholem Alejchem sei ihm „gefolgt“, sagt Bikel über den Schriftsteller, der die große literarische Liebe von Generationen war. Bei der schnellen Flucht aus Wien musste der Vater viele Alejchem-Bände zurücklassen. Aber eine Verwandte brachte sie ihm später nach. Ein ganzes Leben lang sei Scholem Alejchem sein Begleiter gewesen, erzählt Bikel. Nicht nur auf der Bühne, auch im Film beeindruckte der vielseitige Künstler, wie eine beeindruckende Filmografie belegt. Seine Rolle als Sheriff Max Muller in „Flucht in Ketten“ (1958) brachte ihm eine Oscar-Nominierung ein. Von unschätzbarer Bedeutung ist sein Engagement als Sänger.

Seit er in den Fünfzigerjahren Platten mit jiddischer Volksmusik veröffentlichte, wurde er zum Idol einer Generation. Bikel sang bis zuletzt, in 23 Sprachen, von denen er sechs tatsächlich beherrschte. Im Film sind Beispiele zu erleben. Wie alle großen Entertainer, berichtet ein Kundiger, habe Theodore nicht einfach Texte mit Melodien vorgetragen, sondern dabei eine ganze Welt heraufbeschworen. Mit seinem jiddischen Liedern, in die er englische Übersetzungen einflocht, wurde er zum Vermittler einer Welt, die auch viele Juden nicht einmal mehr vom Hörensagen kannten.

Vergessene Sprache, versunkene Welt

Denn das Jiddische, sagt Schriftsteller Michael Wex, sei nach dem Zusammenbruch des Stedtls, unter den Auswanderern in den USA und in Kanada mehr und mehr zu einer vergessenen Sprache geworden. Es galt als Idiom der Großeltern und der Vergangenheit, nicht der modernen Gegenwart. Jiddisch-sprachige Eltern verwendeten sie oft nur, wenn sie von ihren Kindern nicht verstanden werden wollten, bedauert Wex. Oder sie sprachen nur Jiddisch, wenn sie allein waren – um zu vermeiden, dass ihre Kinder die alte Sprache aufschnappten.

Denn diese signalisiere für viele „alles, was zurückhält.“ Mehr denn je steht daher – trotz des Engagements von „Jiddischisten“ wie Wex – das Überleben des Jiddischen zur Frage. Und das, obwohl nach Auskunft eines Kenners im Film diese Sprache zum Beispiel ein hervorragendes Vehikel für jüdischen Humor ist.

Lachen und Weinen

Scholem Alejchem, der 1916 in New York starb, verfügte in seinem Testament, dass sich seine Nachkommen jedes Jahr an seinem Todestag versammeln sollten, um lustige Geschichten vorzutragen. Als schöner Höhepunkt des Filmes liest Theodore Bikel eine Erzählung über den öffentlichen Verkehr im Stedtl und lässt seine Interpretationskunst aufblitzen.

Theodore Bikel spielend. JFW15

Jüdisches Filmfestival

Theodore Bikel in seinem Element

Die kleine, arme Welt wird spürbar, aber das Gelächter kommt trotzdem vom Herzen. Man solle wenn nötig auch auf Kredit lachen, sagte Scholem Alejchem, den Witz bekomme man später dazu. Tragödie und Komödie waren aus seiner Sicht nicht zu trennen, sondern gehörten zusammen.

Bikel, der geborene Theatermensch

Nach Berichten seiner Mutter habe er gesungen, bevor er sprechen konnte, sagt Bikel über die eigene Kindheit in Wien. Dazu habe er eine Zeitung auf den Boden gelegt und sich darauf gestellt. Schon damals, reflektiert er, habe er eine Bühne gebraucht. „Ich werde ein Theatermensch bleiben bis zum Schluss“, sagt er. „Ich werde immer dankbar sein, dass es mir erlaubt wurde, aus der absurden Künstlichkeit des Alltagslebens in die Wirklichkeit des Theaters zu entkommen.“

Bikel war nicht nur auf der Bühne und vor der Kamera aktiv, sondern auch im Einsatz für Gerechtigkeit. Nach einem Protestmarsch in Alabama gegen die Rassentrennung im Amerika der Sechzigerjahre wurde er an der Seite schwarzer Bürgerrechtsaktivisten verhaftet.

Einsatz gegen Rassentrennung

Er habe damals von einem Amerika geträumt, das wenigstens im Gefängnis die Rassentrennung aufheben würde, erzählt er. Denn selbst dort habe man „Weiße“ von „Schwarzen“ getrennt untergebracht.

Später setzte sich Bikel als Vizepräsident des World Jewish Congress gegen jede Form von Rassismus und Antisemitismus ein. Soziales Engagement, das zeigt der Film, hat im Judentum einen hohen Stellenwert. So wie die Tradition, die Weitergabe des Erbes an die jungen Generationen. So wie der Humor. Und so wie das Erinnern. „Jüdisch zu sein bedeutet sich zu erinnern“, heißt es an einer Stelle.

Was bleibt?

„Theodore Bikel. In den Schuhen von Scholem Alejchem“ ist ein sehenswerter, ein wichtiger Film. Er ermöglicht nicht nur eine Begegnung mit zwei großen jüdischen Gestalten, einem Schriftsteller und einem Schauspieler, sondern macht darüber hinaus viel von dem deutlich, was das Judentum bestimmt. Und er erinnert auf charmante Weise an das Stedtl und seine Sprache, das Jiddische, das zu versinken droht.

Auch wer Theodore Bikel in diesem Film erst kennenlernt, wird verstehen, warum er jetzt fehlt. „Was wird blaybn?“, fragt er in einem jiddischen Lied. Und singt als Antwort: Vielleicht bleiben nur der Wind, die Blindheit einer Welt, die nicht sieht, und die Schaumkronen auf Meereswellen. Und: „Gott wird bleiben. Ist dir das nicht genug?“

Christian Rathner, religion.ORF.at

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