Thierse über PEGIDA, Flüchtlinge und Europa

Wolfgang Thierse, ehemaliger deutscher Bundestagspräsident, war bei der Forschungsplattform „Religion und Transformation“ in Wien zu Gast. Christoph Riedl-Daser hat den engagierten Katholiken zum Interview getroffen.

Thierse hielt am Mittwochabend den Eröffnungsvortrag bei dem Kongress „Religiöser Fundamentalismus“ an der Universität Wien, der noch bis Freitag andauert.

religion.ORF.at: Seit einem Jahr gehen in Dresden und anderen deutschen Städten Anhänger der PEGIDA-Bewegung auf die Straße. In Sprechchören, auf Transparenten und Plakaten wird vor allem gegen Islam und Muslime gewettert und zur Verteidigung des christlichen Abendlandes aufgerufen.

Wolfgang Thierse: Das Eigentümliche, ja fast Absurde ist, dass das SED-Regime (SED: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, Staatspartei der DDR, Anm.) ja wirklich nur in einem Punkt erfolgreich war: nämlich bei der fast radikalen Entkirchlichung der Leute. Dort demonstrieren Konfessionslose und Religionslose, um ausgerechnet das christliche Abendland gegen den Islam zu verteidigen.

TV-Hinweis

Das Interview mit Wolfgang Thierse ist in der „Orientierung“ am Sonntag, 8. November, 12.30 Uhr in ORF2 zu sehen.

Darin äußert sich noch einmal auf eine sehr verquere Weise eine diffuse Abwehr von Religion, diesmal von einer fremden. Natürlich ist es historisch wie gegenwärtig richtig, dass Europa ganz wesentlich durch das Christentum geprägt ist. Das ist es bis heute. Aber dass ausgerechnet jene, die mit dem Christentum selbst nichts mehr am Hut haben, das verteidigen wollen, das verrät, dass dahinter ganz andere Motive, Gefühle und Ängste stecken.

religion.ORF.at: Diese Betonung des christlichen Abendlandes ist angesichts der Tatsache, dass in Dresden gerade einmal 20 Prozent der Einwohner einer christlichen Religionsgemeinschaft angehören, doch befremdlich. Warum sieht man dennoch Kreuze bei PEGIDA-Kundgebungen?

Wolfgang Thierse: Also das mag für einige Teilnehmer etwas Ernsthaftes sein. Aber nach allen Untersuchungen der Mitläufer, die ich kenne, hat der größte Teil mit dem Christentum nichts am Hut. Bestenfalls ist es für sie noch so etwas wie ein halbwegs vertrautes, gewohntes Kulturgut. Sie wehren sich gegen Fremde. Und der Inbegriff des Fremden ist der Islam, der muslimische Bürger. Und da ist es nun wieder verrückt, dass es in Dresden drei Prozent Ausländer und 0,2 % Muslime gibt.

religion.ORF.at: Sie selbst sind engagierter Katholik. Haben Christen auf PEGIDA-Veranstaltungen etwas verloren?

Wolfgang Thierse: Christen sind auf dem falschen Platz, wenn Sie da mitlaufen. Wer Christ ist, weiß, dass das Christentum eine Einladung zur Nächstenliebe ist - auch und gerade gegenüber Fremden. Insofern sage ich sehr, sehr entschieden: Wer dort mitläuft, bei solchen „Hassorgien“, verrät das Christentum.

Wolfgang Thierse

ORF/Christoph Riedl-Daser

Wolfgang Thierse

religion.ORF.at: In welchem Zusammenhang steht für Sie dabei die aktuelle Krise im Umgang mit zehntausenden Männern, Frauen und Kinder, die über den Balkan nach Zentraleuropa kommen?

Wolfgang Thierse: Der Zustrom von Flüchtlingen, von 100.000 Mann, und damit entstehen ja wirklich dramatische praktische Probleme, ist natürlich der Stoff für die Demagogen. Weil da Ängste entstehen, die man ausbreiten kann. Die Rechtsextremisten, die Neonazis sind unterwegs, um diese Besorgnisse ins Ideologische, in die Sprache des Hasses, zu übersetzen. Und deswegen sage ich, wir müssen sehr genau drauf achten: Ängste muss man immer ernst nehmen. Aber Angst und Hass sind sehr unterschiedliche Dinge. Besorgnisse zu äußern, ist etwas ganz anderes, als Gewalt gegen Flüchtlinge auszuüben.

religion.ORF.at: Wie zufrieden sind Sie, als ehemaliger SPD-Politiker, mit dem Kurs der deutschen Kanzlerin Angela Merkel?

Wolfgang Thierse: Die Kanzlerin hat eine große humanitäre Geste gemacht, die meine Zustimmung findet. Man konnte damals nicht alle Folgeprobleme sehen. Aber jetzt sind diese Folgeprobleme da, und jetzt geht es darum, dass man europäische Solidarität organisiert. Europa ist solidarisch, oder es wird ein gemeinsames Europa nicht mehr geben. Wir brauchen eine faire Verteilung von Lasten. Wir brauchen eine gemeinsame europäische Politik zur Überwindung der Fluchtursachen. Und in Europa müssen wir die riesigen praktischen, organisatorischen, finanziellen, sozialen und kulturellen Probleme dieser Zuwanderungswelle lösen. Das wird nicht ohne Streit und ohne Konflikte gehen. Aber diese Herausforderung müssen wir bestehen.

religion.ORF.at: Welche Verantwortung haben Kirchen und Religionsgemeinschaften in Europa, an einer Lösung mitzuarbeiten?

Wolfgang Thierse: Die Religionsgemeinschaften haben die Pflicht, und sie erfüllen diese auch. Das ist in Deutschland auch so, dass sehr viele christliche Gemeinden, katholische und evangelische, ganz viel praktische Hilfe leisten. Auch die öffentlichen Stellungnahmen der Kirchen sind ganz eindeutig: Wir haben die Pflicht, den Menschen zu helfen. Das ist Christenpflicht. Und damit auch die Pflicht eines anständigen Rechtsstaates, einer humanitären Gesellschaft.

religion.ORF.at: Die Kämpfer des sogenannten „Islamischen Staates“ oder von „Boko Haram“ in Nigeria benutzen den Islam als Rechtfertigung für ihre Gräueltaten. Die Folge davon ist, dass eine gewalttätige Minderheit das weltweite Islambild prägt. Wie kann eine Differenzierung zwischen dem friedlichen Großteil der Muslime und gewalttätigen Extremisten gelingen?

Wolfgang Thierse: Es ist eine ziemliche Herausforderung, diese Anstrengung der Unterscheidung immer wieder einzuüben. Nämlich einerseits zwischen dem Missbrauch des Islams zur Begründung von Gewalt und andererseits dem Islam als eine nachbarschaftliche Religion. Das ist unsere Anstrengung, die wir leisten müssen. Die muslimische Gemeinschaft, sowohl die in der Nachbarschaft als auch die Weltgemeinschaft, muss selber erkennbar auf diese Unterscheidung achten. Und ich wünsche mir, dass sich die islamische Gemeinschaft, die islamisch geprägten Staaten, viel mehr gegen diesen gewalttätigen Fundamentalismus islamistischer Prägung äußern und dagegen auftreten.

religion.ORF.at: Einige muslimische Theologinnen und Theologen befürworten die Entwicklung eines Islams mit europäischer Prägung. Können Sie dem etwas abgewinnen?

Wolfgang Thierse: Ich bin sehr dafür, dass wir alles unterstützen, was einen „Euro-Islam“ entwickeln lässt. Ein Islam, der sich auf unsere Bedingungen einlässt: die Trennung von Kirche und Staat, die Unterscheidung von Religion und Politik, die Grundwerte unserer Verfassung: Gleichberechtigung, religiöse Toleranz. Einen solchen Islam kann dieses Europa gebrauchen. Er wäre ein Beitrag zum friedlichen Zusammenleben in Europa. Und er würde diesen Islam auch sehr unterscheiden von dem Islam, der etwa in Saudi-Arabien geprägt und finanziert wird. Und erst recht von dem Islam des IS.

Das Interview führte Christoph Riedl-Daser für religion.ORF.at