Erotisches Begehren und die Altlast der Sünde

Bei dem Wiener Symposium „Sexualität und Macht - Zwischen medialer Präsenz und religiöser Normierung“ setzten sich internationale Theologen mit christlicher Lustfeindlichkeit und Sexualitätsnormen in den Religionen auseinander.

Erotisches Begehren gehört zur Gottesebenbildlichkeit des Menschen, hat der Südtiroler Theologe Martin Lintner am Freitag im Blick auf Ansätze einer römisch-katholischen Neubewertung betont. Deswegen dürfe Sexualität auch nie rein auf eine Fortpflanzungsfunktion reduziert werden, sagte der Präsident des „International Network of Societies for Catholic Theology“ (INSeCT) und Professor an der Brixener Theologischen Hochschule.

Die kirchliche Lehre über Sexualität, Partnerschaft und Ehe leide bis heute unter der Hypothek historischer Altlasten. Dieser Hypothek zufolge sei Sexualität sündhaft.

Christliche Lustfeindlichkeit

Das Studium der historischen Wurzeln der christlichen Lustfeindlichkeit helfe zwar einerseits dabei, das Christentum per se besser zu verstehen, auf der anderen Seite zeige es aber auch deutlich auf, wo „Korrekturen, Weiterentwicklungen und Neuansätze“ notwendig seien, stellte Lintner fest. Erst das Zweite Vatikanische Konzil habe eine Neubewertung der Sexualität ermöglicht und einem erfüllten Sexualleben innerhalb der Ehe endlich Bedeutung zuerkannt.

Trotzdem bestehe auch heute noch „ein gewisses Korrekturpotenzial“ in der kirchlichen Sexualmoral, so der Theologe. Denn auch heute spreche die Kirche noch, was die Sexualität anbelangt, nicht mit einer klaren Stimme, so Lintner.

Sexualitätsnormen in den Religionen

Neben Lintner sprachen bei dem Symposium die Wiener
Religionswissenschaftlerin Birgit Heller sowie der Salzburger Theologe Hans Joachim Sander. Heller verglich die Sexualitätsnormen in den unterschiedlichen Religionen. „Die Sexualität wird in den verschiedenen Religionen zwar unterschiedlich gesehen, sie wird durch Richtlinien stets normiert“, sagte sie. Für die Expertin mit Schwerpunkt „Religionswissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung“ besteht dabei ein klarer Zusammenhang zwischen religiöser Sexualmoral, Kontrolle und Gewalt. Denn Sexualität habe „immer etwas mit Macht zu tun und dadurch auch mit Geschlechterrollen“.

Für Heller dient die religiöse Sexualmoral in erster Linie zur Kontrolle und Unterdrückung von Frauen. „Alle großen Religionen sind im Kontext patriarchaler Gesellschaften entstanden“, deswegen sei dieser Gedanke sehr naheliegend.

Keuschheitsideale udn Bekleidungsvorschriften

Als Beispiele nannte Heller Keuschheitsideale, Bekleidungsvorschriften, Kinderheirat oder auch das Ideal der Jungfräulichkeit. Das zeige deutlich, dass die Religionen von Anfang an darauf bedacht waren, die Sexualität von Frauen zu kontrollieren.

Anders sehe es bei der Rolle der Frau als Mutter aus. An dieser Stelle würde die Frau fast ausnahmslos in allen Religionen verehrt. Dies zeige aber auch ein Paradoxon auf, „denn wie soll eine Frau ohne Sexualität ein Kind gebären?“, so Heller.

Sexualität als Vorgang zum Lustgewinn

Für den Theologen Hans Joachim Sander ist es eine große moderne Errungenschaft, dass Konventionen und Kirche nicht mehr auf einvernehmlich gelebte Sexualität zugreifen. Trotzdem fehle der katholischen Kirche noch immer eine Wertschätzung der Sexualität als Vorgang zum Lustgewinn. Mit dieser Haltung sei die Kirche aber „weit entfernt“ von jeglicher gesellschaftlichen Realität, so Sander in seinem Vortrag zum Thema „Allgegenwärtig und zugleich verschwiegen: Die soziale Grammatik der Sexualität“.

Sexueller „Geständniszwang“

Auf der anderen Seite bestehe heutzutage ein immenser Druck und „Geständniszwang“, Sexualität öffentlich zu besprechen und sich darüber auszutauschen. „Es erscheint ausgeschlossen, dass eine gesellschaftlich erfolgreiche Person ein schlechtes Sexualleben hat“.

Dadurch würden Sexualität und gesellschaftlicher Aufstieg Hand in Hand gehen. Deswegen - so zeigte sich Sander überzeugt -, „folgt die Sexualität nicht nur einer intimen, sondern vielmehr auch einer sozialen Grammatik“.

Dies könnte die Kirche in gewisser Weise aufgreifen. Sie müsste damit beginnen, dem Körper größere Bedeutung zuzumessen. Denn der Körper sei „der Ort, an dem sich ganz unmittelbare Gotteserfahrungen identifizieren lassen“, so Sander.

religion.ORF.at/KAP