Nicaragua: Ostern mit vergänglicher Kunst

In mühevoller Kleinarbeit werden am Karfreitag Teppiche („Alfombras“) mit biblischen Motiven aus buntem Sägemehl auf die Straßen der Stadt Leon im Westen von Nicaragua gestreut. Die farbenfrohen Kunstwerke dienen den Prozessionen als Weg.

Mit den ersten Sonnenstrahlen öffnen sich die Türen in Sutiaba, dem indigenen Viertel der Kolonialstadt Leon. Das erste Leon (Leon Viejo) befand sich einst dreißig Kilometer vom heutigen entfernt. Nach einem Ausbruch des Vulkanes Momotombo wurde die Stadt in der Nähe der indigenen Siedlung Sutiaba neu gegründet. Die gleichnamige Sprache beherrscht heute keiner mehr, dennoch ist man stolz auf die präkolumbianischen Wurzeln.

„Alfombras“: Bunte Straßenbilder

Nach dem Frühstück beginnen die ersten Familien, Fundamente aus Brettern und Sägespänen vor den Häusern auszulegen. Von Groß bis Klein helfen alle mit und im Laufe des Vormittags sind über vierzig „Alfombras“, (dt. Teppiche) in Arbeit.

Streubilder aus buntem Sägemehl

Klaus Brunner

Die „Alfombras“ dienen den Karfreitagsprozessionen als Weg

Die Streubilder aus Sutiaba wurden etwa um 1880 zum ersten Mal literarisch erwähnt. Doch im Gegensatz zum „großen Bruder“ Antigua Guatemala, wo pompöse Osterprozessionen Jahr für Jahr Tausende Besucher anlocken, gibt es in Leon keine genauen Aufzeichnungen zur Entstehung des Brauchs. „Heute behaupten alle meine Nachbarn, dass ihre Vorfahren mit dem Streuen der Muster begonnen haben. Doch beweisen kann es niemand“, sagt der Künstler Frederico Quezada schmunzelnd.

Eine katholisch-indigene Mischung

Noch ist die Temperatur angenehm, aber bald schon wird das Thermometer auf 38 Grad klettern. Ostern ist die heißeste Zeit des Jahres und Leon gilt als Hitzepol Nicaraguas. Viele der katholisch geprägten Länder Mittelamerikas machen die Karwoche zu einem farbenfrohen Fest mit althergebrachten Ritualen.

Die Streuteppiche sollen an den Einzug von Jesus in Jerusalem erinnern, bei dem die Straßen mit Palmwedeln und Rosen geschmückt waren. Ihr Ursprung wird im spanischen Teneriffa vermutet, doch auch von einigen Maya-Stämmen aus Mexiko sind ähnliche Praktiken bekannt.

Streubilder aus buntem Sägemehl

Klaus Brunner

Indigene Bräuche vermischten sich mit dem Katholizismus

Die Ruinen des alten Leon gehören heute zum UNESCO-Weltkulturerbe, ebenso wie die Kathedrale des „neuen“ Leon. In der 158.000-Einwohner-Stadt gibt es 14 koloniale Kirchen. Seit 1984 ist Leon durch eine Städtepartnerschaft freundschaftlich mit Salzburg verbunden. „Viele Bräuche kamen mit den Franziskanern nach Mittelamerika. Sie wussten damals schon ganz genau, dass die Kunst ein guter Weg ist, um ihre Botschaft zu verbreiten. Der Katholizismus hat sich dann mit einheimischen Traditionen vermischt“, sagt der Historiker Jacinto Salinas aus Leon.

Karfreitagliche Volksfeststimmung

Am frühen Nachmittag sind die meisten Bilder schon sehr weit fortgeschritten und ein buntes Gewusel hat sich in Sutiaba breitgemacht. Am Straßenrand brutzeln traditionelle Speisen und Verkäufer drehen mit Zuckerwatte, Eis und kalter Limonade ihre Runden. Nur Alkohol sieht man heute kaum, schließlich ist Karfreitag. Besucher aus dem In- und Ausland bestaunen die „Alfombras“ und die Künstler erhalten viel Zuspruch für ihre Werke.

Streubilder aus buntem Sägemehl

Klaus Brunner

Kinder stellen die Kreuzigung Jesu dar

Auch Kurioses ist zu sehen, etwa eine Kreuzigungsszene gespielt von kleinen Kindern. Die „Semana Santa“ genannte Karwoche ist in Lateinamerika nicht nur das wichtigste religiöse Fest, sondern für viele auch der einzige Urlaub im Jahr. Man ist in Feierlaune und die Nicaraguaner versuchen der österlichen Hitze am Strand oder in den Bergen zu entfliehen.

Ehrgeiz und Ehrerbietung

Federico Quezada gilt als einer der kreativsten „Alfombra“-Künstler in Sutiaba: „Ich besorge immer am Gründonnerstag das Sägemehl und färbe es ein. Am besten sind bunte, fröhliche Farben, die Aufmerksamkeit erregen. Ich überlege natürlich schon lange vorher, welches Motiv ich machen werde.“ Beim Streuen der Bilder ist für die Familien in Sutiaba auch ein gewisser Wettbewerbsgedanke dabei.

Streubilder aus buntem Sägemehl

Klaus Brunner

Etwas Wettbewerb darf bei den „Alfombras“ nicht fehlen

Quezada gibt sich dennoch bescheiden: „Mir geht es um die Tradition und darum, ein kleines Opfer zu bringen. Aber im Vergleich zum Leiden von Jesus ist unser Opfer ja nicht so groß. Ein paar Stunden in der tropischen Sonne, das hält man schon aus.“

In zehn Sekunden ist alles nur noch Staub

Bis zum Abend sind alle Kunstwerke fertig. Jetzt heißt es warten, bis sie ihrem eigentlichen Zweck zugeführt werden. Die Sonne ist längst untergegangen und gegen 20.00 Uhr naht die Karfreitagsprozession heran. Getragene Begräbnismusik mit Tuba und Trompeten begleitet den Zug, ein Dutzend Männer schleppt sich an einer Jesus-Figur im Totenbett ab. Die Prozession steuert direkt auf die „Alfombras“ zu, das Highlight des Tages. In jedem Teppich stecken fünf bis sechs Stunden Handarbeit, in zehn Sekunden ist alles nur noch Staub.

Streubilder aus buntem Sägemehl

Klaus Brunner

Die „Alfombras“ stellen die Vergänglichkeit des Lebens dar

Die schönen Straßenbildnisse sind nicht für die Ewigkeit gedacht, sondern sollen auch die Vergänglichkeit des Lebens darstellen. Ist die Prozession vorüber, nehmen manche Kinder einen Sack voll Sägemehl mit, um sich daheim auch eine kleine „Alfombra“ zu streuen. Die Bewohner von Sutiaba kehren noch am selben Abend den Staub von den Pflastersteinen und Leons Müllabfuhr kümmert sich um den Rest. Im nächsten Jahr werden sie wieder „Alfombras“ vor ihre Häuser streuen, so wie es schon ihre Eltern und Großeltern getan haben.

Klaus Brunner, für religion.ORF.at