Russland: Kirche gedenkt Lenin-Dekrets von 1918

In der russisch-orthodoxen Kirche wurde am Sonntag des 100. Jahrestags des bolschewistischen Dekrets „Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche“ gedacht.

Mit dem am 5. Februar 1918 veröffentlichten Dekret wurde das gesamte Vermögen der russisch-orthodoxen Kirche und aller religiösen Vereinigungen zum Nationaleigentum erklärt, jegliche religiöse Unterweisung im Bildungsbereich wurde untersagt, alle Zivilstandsvorgänge (Geburt, Eheschließung, Tod) wurden der kirchlichen Kompetenz entzogen.

Wenig Kritik in Öffentlichkeit, scharfe Kritik in Kirche

Das Dekret, das eine 70-jährige Kirchenverfolgung in Gang setzte, wurde in der Weltöffentlichkeit wenig kritisiert, weil es den bürgerlich-liberalen Vorstellungen entsprach, die in den französischen „Trennungsgesetzen“ (Loi Combes) von 1905 zum Ausdruck gekommen waren (die auch in vielen lateinamerikanischen Ländern Anwendung fanden).

Die russisch-orthodoxe Kirche reagierte scharf auf das leninistische Dekret. Das Landeskonzil der russisch-orthodoxen Kirche stellte fest, dass es sich um einen „böswilligen Übergriff“ auf die Struktur der orthodoxen Kirche und um einen „offenen Akt der Verfolgung“ handle. Ausdrücklich wurde festgehalten, dass jede Beteiligung an der Verbreitung des leninistischen Dekrets und jeder Versuch zu seiner Verwirklichung kirchenrechtliche Strafen bis hin zur Exkommunikation nach sich ziehe.

Das „Volk Gottes“ habe durch „machtvolle Prozessionen“ und die Verteidigung von Kirchen und Klöstern gegen Übergriffe der leninistischen Arbeiter-, Bauen- und Soldatenräte reagiert, wie es in einem Bericht von „Orthodox Christianity“ heißt. Die Bemühungen orthodoxer Gläubiger zur Verteidigung orthodoxer Heiligtümer hätten allein von Februar bis Mai 1918 an die 700 Todesopfer gefordert.

Kirchliche Schulen dem Volkskommissar unterstellt

Im Zuge des Verbots des Religionsunterrichts wurden alle rund 35.000 kirchlichen Schulen sowie die theologischen Ausbildungsstätten dem Volkskommissar für Bildung unterstellt.

Ihren gesamten Landbesitz verlor die Kirche bereits im November 1917 an den Staat. Alle Geistlichen des Heeres und der Marine sowie anderer staatlicher Institutionen wurden geschasst. Sämtliche kirchliche Gebäude gingen in staatlichen Besitz über. Das Dekret „Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche“ war also nur die Krönung eines bereits seit Monaten andauernden Feldzugs.

Intellektuelle von Kirche abgewandt

Zur Hilfe kam den kommunistischen Machthabern der schlechte Ruf vieler Bischöfe und Pfarrer. Sie galten als staatshörig. Unbeliebt bei den Gläubigen war obendrein, dass Priester ihr Pfarramt oft dem eigenen Sohn vererbten. Die meisten russischen Intellektuellen hatten sich von der Kirchenführung abgewandt.

So hatte es Lenin leicht bei der Unterdrückung der einst stolzen Kirche. Allzu schroffe Formulierungen vermied er in dem Dekret allerdings. Die Liquidierung der Kirche kleidete er in geschmeidige Worte, um die orthodoxen Russen nicht vor den Kopf zu stoßen.

Bevorzugung von Splitterkirchen

Hart traf die bisherige Staatskirche der Schachzug der Staatsspitze, fortan kleine Splitterkirchen zu bevorzugen. Die rechtliche Vorrangstellung der orthodoxen Kirche gegenüber anderen Konfessionen und Religionen endete im November 1917.

Die Regierung unterstützte besonders in den 1920er-Jahren massiv die „Erneuerer-Bewegung“, die sich den Namen „Lebendige Kirche“ gab. Ihre Geistlichen traten in Prozessen gegen Priester, die dem Moskauer Patriarchen die Treue hielten, als Belastungszeugen auf. Bereits in den ersten fünf Jahren der Sowjetherrschaft wurden mehr als 20.000 Priester, Mönche und Nonnen, darunter auch einige Dutzend Bischöfe, verhaftet. Manche von ihnen wurden unmittelbar hingerichtet.

religion.ORF.at/KAP