Scheuer in Dachau: KZ-Opfern Namen zurückgeben

Im Gedenken an den „Anschluss“ Österreichs an Hitlerdeutschland am 12. März 1938 hat der Linzer Bischof Manfred Scheuer die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau besucht.

Mit ihm haben am Dienstag unter anderen der evangelische Superintendent Gerold Lehner, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Linz, Charlotte Herman, und der frühere oberösterreichische Landeshauptmann Josef Pühringer (ÖVP) an einer Gedenkfahrt teilgenommen, mit der laut Diözese Linz „den Opfern ihre Namen und damit ihre menschliche Würde zurückgegeben werden“ sollte.

Gedenken an mehreren Orten

Im Zentrum stand das Gedenken im Gebet an verschiedenen religiösen Gedenkorten in Dachau: der Evangelischen Versöhnungskirche, der jüdischen Gedenkstätte und der Kirche des Karmelitinnen-Klosters „Heilig Blut“.

Am 12. März 1938 marschierte die Deutsche Wehrmacht in Österreich ein. Bereits einen Tag danach begannen die Nationalsozialisten, Politiker, Priester, Polizei- und Gendarmeriebeamte, Personen jüdischer Herkunft und „Andersdenkende“ zu verhaften.

Viele davon kamen bald darauf ins Konzentrationslager Dachau im Nordosten von München, unter ihnen rund 1.000 Oberösterreicher. Im Gedenken an vor allem diese Menschen organisierten die Katholische Aktion Oberösterreich, das Evangelische Bildungswerk Oberösterreich und Jägerstätter-Biografin Erna Putz die Gedenkfahrt.

Biografien erforschen

Im Konzentrationslager - allein in Dachau waren von März 1933 bis April 1945 insgesamt 202.000 Männer inhaftiert, etwa 42.000 haben das Lager nicht überlebt - wurden die Menschen zu Nummern degradiert und auch auf diese Weise ihrer Menschlichkeit und Individualität beraubt, so Putz. Ihr sei es ein Anliegen, den KZ-Gefangenen ihre Namen zurückzugeben und ihre Biografien zu erforschen.

Recherchen beim Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, in Dachau selbst und die Hilfe des Heimatforschers Gottfried Gansinger aus Ried im Innkreis führten zu einer Dokumentation von knapp 1.000 Namen - gerechnet hatte Putz mit mehreren hundert.

Mitarbeit am „Gedächtnisbuch“

Etwa ein Drittel der im KZ Dachau internierten Häftlinge aus Oberösterreich haben die Gräueltaten, die ihnen zugefügt wurden, nicht überlebt. Von September 2017 bis Jänner 2018 hat Putz intensiv geforscht und rekonstruiert. Nicht alle Daten konnten in dieser kurzen Zeit verifiziert werden. Deshalb rief Putz in Dachau auch dazu auf, am „Gedächtnisbuch“, einer fortlaufend erweiterten Sammlung von Biografien ehemaliger Häftlinge des KZ Dachau, mitzuwirken.

Beim Gedenken in der Evangelischen Versöhnungskirche wurden etwa 200 ausgewählte Namen und Lebensdaten oberösterreichischer Inhaftierter verlesen. Während die Namen verlesen wurden, zündeten Enkel bzw. Urenkel eines ehemaligen KZ-Häftlings Kerzen an.

Auch an Täter erinnern

Ex-Landeshauptmann Pühringer sagte in seiner Ansprache, dass es ein wichtiger Teil des Gedenkens sei, den Opfern des Lagers ihre Individualität und damit ihre Namen zurückzugeben. Ebenso wichtig sei die Erinnerung daran, dass hier Menschen nicht nur zu Opfern geworden seien, sondern auch zu Tätern, die aus der Mitte der Gesellschaft kamen. „Ihre persönliche Schuld haben sie mit ins Grab genommen. Die Folgen ihrer Schuld, die die Grundlagen menschlicher Sittlichkeit zutiefst erschüttert haben, sind für uns Nachgeborene aber Auftrag und Verantwortung“, sagte Pühringer.

Superintendent Lehner sagte in seiner Predigt vor der Verlesung der Namen der Opfer: „Kein Wort, das wir heute sagen, kann etwas von dem, was geschehen ist, ungeschehen machen. Keine Trauer, die wir heute empfinden, vermag etwas zu verändern an dem Schicksal der Menschen, deren Namen wir hören werden.“

Erinnern „verwirrt und ängstigt“

Kein Gedenken habe die Macht, die Wunden zu heilen, die geschlagen wurden, den Tod aufzuheben, der zugefügt wurde. Gedenken aber lässt nicht zu, dass die Fragen verstummen und wir zur Ruhe kommen. Im Gedenken setzen wir uns aus, im Erinnern lassen wir etwas in uns ein, das uns unruhig macht, verwirrt und ängstigt."

Das Gedenken endete bei der großen Glocke vor der „Todesangst-Christi-Kapelle“ am Ende der Lagerstraße. Die Glocke, die täglich um 14.50 Uhr läutet, war in den 1960er Jahren von Überlebenden aus Österreich gestiftet worden.

Jüdisches Gedenken

In der jüdischen Gedenkstätte betete die Linzer Kultusgemeinde-Präsidentin Herman, das „El male rachamim“ („Gott voller Erbarmen“) auf Hebräisch und Deutsch - ein jüdisches Gebet, das während Bestattungen, am Todestag eines Verstorbenen (Jahrzeit), beim Besuch der Gräber von Angehörigen sowie am Jom haScho’a (Tag des Gedenkens an die Shoa) zum Gedenken an die Opfer des Holocaust in der Synagoge gebetet wird.

„Lernen aus der Geschichte“

Der Gedenktag endete mit einem Gottesdienst in der Klosterkirche der Karmelitinnen. Das Kloster des Karmel „Heilig Blut“ von Dachau befindet sich unmittelbar nördlich am Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers. Den Vorhof des Klosters betritt man durch einen der ehemaligen Wachtürme des Lagers.

Die Ordensschwestern sehen ihre Aufgabe an diesem Ort des Leidens und der menschenverachtenden Grausamkeiten darin, durch ihre kontemplative Lebenshaltung und ihr Gebet für Versöhnung und Frieden zu leben. Bischof Manfred Scheuer dankte den Karmelitinnen dafür, „dass ihr diesen Ort des Grauens mit einer Seele, mit Hoffnung, Leben und Gebet erfüllt“.

Den Gottesdienst zelebrierte Bischof Scheuer gemeinsam mit dem Wilheringer Abt Reinhold Dessl, Superior Hubert Bony vom Stift Engelszell und P. Christoph Eisentraut, Regionaloberer der Mariannhiller Missionare für Österreich. Mitbrüder aus allen drei Ordensgemeinschaften waren in Dachau inhaftiert, einige sind dort bzw. in einem anderen Konzentrationslager verstorben.

Kelch gefangener Priester verwendet

Zur Eucharistiefeier verwendete Bischof Scheuer jenen Kelch, den die gefangenen Priester bei den Lagergottesdiensten in Dachau verwendet hatten. Insgesamt waren rund 2.700 Geistliche in Dachau inhaftiert, die meisten kamen aus Polen. Aus dem deutschsprachigen Raum stammten besonders viele aus der Diözese Linz, nämlich 43 Priester und Ordensleute - 19 von ihnen sind im KZ verstorben.

Im Jänner 1941 erhielten deutsche und österreichische Priester im KZ Dachau die Erlaubnis, eine Kapelle einzurichten und die Messe zu feiern. Den Kelch erhielten die Häftlinge vermutlich von der Pfarre Dachau. Er wurde von Pfarrer Heinrich Steiner aus Steinerkirchen am Innbach nach der Befreiung 1945 mit in seine Pfarre genommen.

In seiner Predigt sagte Bischof Scheuer wörtlich: „Erinnern und Gedenken sind zutiefst jüdisch und christlich und zeichnen jede humane Kultur aus. Getragen von der Suche nach Wahrheit, reinigen sie das Gedächtnis, nehmen das Leid der Opfer in Blick, machen dankbar für das bleibend Gute und ermöglichen so Gerechtigkeit, Versöhnung und ein Lernen aus der Geschichte.“

Ersatzreligion Nationalismus

Der zu einer Ersatzreligion entartete Nationalismus, der Antisemitismus und die für Hunderttausende existenzbedrohende Arbeitslosigkeit hätten auch viele in Österreich in die Irre und vor 80 Jahren, im März 1938 zum „Anschluss“ an das nationalsozialistisch regierte Deutsche Reich geführt.

Papst Pius XI. habe ein Jahr davor in seiner Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vor den nationalsozialistischen „Machenschaften, die von Anfang an kein anderes Ziel kannten als den Vernichtungskampf“ und vor der „verderblichen“ nationalen Ideologie, der „noch verderblichere Praktiken auf dem Fuß zu folgen pflegen“ klar gewarnt, den Rassismus schärfstens verurteilt und die „Einheit des Menschengeschlechtes“ beschworen.

Scheuer wörtlich: „Leider haben viele, auch in der Kirche, auch die österreichischen Bischöfe, nach der Besetzung Österreichs diese katastrophalen und menschenverachtenden Konsequenzen nicht deutlich benannt oder erkannt.“

„Religiös verbrämter Antijudaismus“

Das Gedenken an den März 1938 sei für Christen verbunden mit der Erinnerung an das unvorstellbare Leid des jüdischen Volkes und mit dem Gedenken an die Verstrickung in Schuldzusammenhänge des Antisemitismus. Scheuer: „Ein religiös verbrämter Antijudaismus hatte zur Folge, dass viele Christen, als es ernst wurde, einem national und rassisch begründeten Antisemitismus nicht entschieden genug widerstanden haben. Das Bewusstsein der Glaubenssolidarität der Christen mit den Juden war nicht oder viel zu wenig vorhanden.“

Die Bibel traue Christen und Juden zu, Freunde und Anwälte des Lebens zu sein und „Lebensräume schaffen, in denen in die Enge getriebene Menschen Ja zum Leben sagen können“, so Scheuer. Der Bischof wörtlich: „Im Gedenken an jene, die damals den Mut hatten, gegen den Strom zu schwimmen, geht es auch heute darum, allen Formen der Ausgrenzung, des Antisemitismus und jeglichen Bedrohungen der Menschenwürde entgegenzutreten.“

religion.ORF.at/KAP

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