Studie: Gefahr des kirchlichen Missbrauchs noch aktuell

Die katholische Kirche in Deutschland hat das Problem des sexuellen Missbrauchs durch Priester noch nicht im Griff. Zu diesem Ergebnis kommen die Autoren einer von der Deutschen Bischofskonferenz beauftragten Studie über sexuellen Missbrauch in der Kirche.

Die 350 Seiten umfassende Studie, die sich eingehend mit Missbrauch durch Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige beschäftigt, wurde am Dienstag in Fulda vorgestellt. Es bestehe eine „dringende Pflicht zum Handeln“, erklärte die Bundesvorsitzende der Opferschutzorganisation Weißer Ring, Roswitha Müller-Piepenkötter, die im Beirat der Studie saß, in ihrem Redemanuskript.

Demnach besteht für Buben und Mädchen nach wie vor eine Gefahr des Missbrauchs durch Priester. Es sei davon auszugehen, dass „auch für die nahe Vergangenheit und für die Zukunft mit solchen Fällen zu rechnen ist“, so Müller-Piepenkötter.

Hilfe für Betroffene

Verbrechensopfer erhalten bei der Opferunterstützungsorganisation Weißer Ring anonym und kostenlos Beratung und Unterstützung unter der Nummer: 0800 112 112 (Österreich) oder 116 006 (Deutschland).

Strukturen der Kirche prüfen

Die Studienautorinnen und -autoren fordern, den 2010 eingeleiteten Weg der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in wichtigen Punkten „radikal“ zu ändern.

So müssten die Verantwortlichen in den Bistümern sich konkret und im Einzelfall zu ihrer Verantwortung bekennen und Fehlverhalten schonungslos offenlegen. Auch müssten die Strukturen und Hierarchien der Kirche überprüft werden.

Umgang mit Missbrauch „erschüttert“ Psychiater

Der Leiter der Studie zeigte sich „erschüttert“ von den Ergebnissen. Er habe an sich als forensischer Psychiater eine professionelle Distanz, sagte der Mannheimer Professor Harald Dreßing. Aber sowohl das Ausmaß als auch der Umgang der Kirchenverantwortlichen mit den Taten hätten ihn erschüttert.

Im Jahr 2010 war der Missbrauchsskandal auch in Deutschland bekanntgeworden, die nun vorgestellte Studie soll den Skandal aufarbeiten. Für das Forschungsprojekt lagen 38.156 Personal- und Handakten von Geistlichen aus den Jahren 1946 bis 2014 vor.

Kardinal Reinhard Marx und Bischof Stephan Ackermann (Beauftragter für Fragen des sexuellen Missbrauchs und für Fragen des Kinder- und Jugendschutzes)

APA/AFP/Daniel Roland

Kardinal Marx und Jugendschutzbeauftragter Bischof Ackermann

Experte: „Deutlich größeres Dunkelfeld“

Unter den 1.670 beschuldigten Klerikern sind den Angaben zufolge 1.429 Diözesanpriester (5,1 Prozent aller im Untersuchungszeitraum tätigen Diözesanpriester), 159 Ordenspriester (2,1 Prozent) und 24 hauptamtliche Diakone (1,0 Prozent). Bei 54 Prozent der Beschuldigten lagen Hinweise auf ein einziges Opfer vor, bei 42,3 Prozent Hinweise auf mehrere Betroffene. Insgesamt sollen mindestens 3.677 Minderjährige missbraucht worden sein.

Dreßing sagte, die genaue Zahl der Täter werde sich nicht ermitteln lassen. Die von den Studienmachern angegebene Zahl von 1.670 Klerikern sei nur die aus den vorliegenden Akten ermittelbare „untere Schätzgröße“ für eine Zahl der Täter. „Wir müssen vielmehr von einem deutlich größeren Dunkelfeld ausgehen.“ Es gehe hier um die „Spitze eines Eisbergs, dessen tatsächliche Größe wir nicht kennen“.

Kein „historisches Phänomen“

In der Kirche gebe es weiterhin spezifische Strukturen, die den sexuellen Missbrauch begünstigten, sagte Dreßing weiter. Es gehe um einen „Missbrauch der Macht“. Es gehe aber auch um den Umgang mit Themenfeldern wie Sexualität und Homosexualität, dem Zölibat und der Beichte.

Wie der Studienleiter sagte, zog die Kirche noch immer nicht die nötigen Konsequenzen aus dem Bekanntwerden des Missbrauchskandals im Jahre 2010. „Es handelt sich nicht um ein historisches Phänomen, das in der Vergangenheit abgeschlossen wurde.“ Weitere Prävention und Aufklärung seien dringend notwendig.

Dreßing verteidigte zugleich die Studie gegen Kritik: Dass die Untersuchungen aus Datenschutzgründen anonym erfolgen mussten und dass es nicht möglich gewesen sei, alle Taten seit 1946 zu erfassen, sei von vornherein bekannt gewesen. Trotzdem hätten die Forscherinnen und Forscher viele wichtige Erkenntnisse zutage fördern können. Auch habe die Bischofskonferenz als Auftraggeberin dem Studienteam immer freie Hand gelassen. Das gelte auch für die Präsentation und die Interpretation der Ergebnisse, die alleine von den Wissenschaftlern formuliert worden seien.

Kardinal Marx: „Ich schäme mich“

Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx, bat die Opfer des massenhaften sexuellen Missbrauchs unter dem Dach der Kirche in aller Form um Entschuldigung. „Allzu lange ist in der Kirche Missbrauch geleugnet, weggeschaut und vertuscht worden. Für dieses Versagen und für allen Schmerz bitte ich um Entschuldigung“, erklärte Marx bei der Vorstellung der Studie.

Marx fügte an: „Ich schäme mich für das Vertrauen, das zerstört wurde; für die Verbrechen, die Menschen durch Amtspersonen der Kirche angetan wurden; und ich empfinde Scham für das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was geschehen ist und die sich nicht um die Opfer gesorgt haben.“ Das gelte auch für ihn selbst. „Wir haben den Opfern nicht zugehört. All das darf nicht folgenlos bleiben.“ Er konstatierte: „Viele Menschen glauben uns nicht mehr. Und ich habe dafür Verständnis.“

Womöglich Beratungen über Strukturänderungen

Marx hatte am Montag in diesem Zusammenhang angedeutet, dass die Bischöfe im Laufe der Woche bei ihrer Herbst-Vollversammlung in Fulda auch über mögliche Strukturänderungen in der Kirche beraten wollten. Er sprach von „einem Wendepunkt für die katholische Kirche in Deutschland - und nicht nur in Deutschland“. Marx sagte zudem: „Die Auseinandersetzung mit den Ereignissen und den Konsequenzen ist damit nicht abgeschlossen, sondern beginnt jetzt.“

Mehr Buben als Mädchen missbraucht

Das Forscherkonsortium um Psychiater Dreßing hatte rund vier Jahre lang an der Studie gearbeitet. Alle 27 deutschen Diözesen nahmen - für unterschiedliche Zeiträume - an der Studie teil, in einige Diözesen wurden Kirchenakten vertieft für die gesamte Phase untersucht. Außerdem wurden für eine qualitative Studie mehrstündige Interviews mit 50 Beschuldigten und 214 Betroffenen geführt.

62,8 Prozent der von sexuellem Missbrauch Betroffenen waren männlich, 34,9 Prozent weiblich, bei 2,3 Prozent fehlten Angaben zum Geschlecht. Das deutliche Überwiegen männlicher Betroffener unterscheidet sich nach Angaben der Forscher vom sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in nicht kirchlichen Zusammenhängen.

Opfer des eigenen Seelsorgers

Drei von vier Betroffenen standen mit den Beschuldigten in einer kirchlichen oder seelsorgerischen Beziehung, zum Beispiel als Ministrierende oder als Schüler oder Schülerinnen im Rahmen von Religionsunterricht, Erstkommunion- oder Firmvorbereitung.

Bei rund einem Drittel der beschuldigten Geistlichen wurden kirchenrechtliche Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger eingeleitet, bei 53 Prozent nicht; bei 13,1 Prozent fehlten entsprechende Angaben. Rund ein Viertel aller eingeleiteten kirchenrechtlichen Verfahren endete ohne Sanktionen. Aus dem Klerikerstand entlassen wurden 41 Beschuldigte, 88 wurden exkommuniziert, also aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen.

Missbrauch in Pfarrhaus und Beichtstuhl

Sexuelle Übergriffe an Minderjährigen durch Geistliche fanden meist bei privaten Treffen in der Privat- oder Dienstwohnung des Beschuldigten statt. Weitere Taten ereigneten sich in kirchlichen oder schulischen Räumlichkeiten oder in Zelt- oder Ferienlagern, ging aus den im Zuge der Studie durchgeführten Befragungen von Tätern und Opfern hervor.

Im einzelnen gaben 60 Prozent der beschuldigten Geistlichen an, dass die Übergriffe bei ihnen zu Hause stattgefunden hätten. Etwa 32 Prozent erklärten, sie hätten die Taten in Kirchenräumen wie der Sakristei oder dem Beichtstuhl begangen, rund acht Prozent gaben Internate und rund vier Prozent Heime an.

Übergriffe vor oder nach Gottesdiensten

Ähnlich sehen die Angaben der Opfer aus. Auch sie geben mit einer Mehrheit (52 Prozent) die Wohnungen der Geistlichen als Tatorte an. Es folgen Kirchenräume (45,8 Prozent), Schulen und öffentliche Räume (jeweils 17,8 Prozent), andere private Räumlichkeiten wie PKWs (17,3 Prozent) sowie Internate (5,1 Prozent), Wohnung der Eltern der Opfer (3,7 Prozent) und Krankenhaus (1,9 Prozent).

22 Prozent der beschuldigten Geistlichen erklärten, der Missbrauch habe während einer Jugendfreizeit stattgefunden, 22 Prozent gaben Ministrantenstunden an, es folgt die Angabe „vor oder nach einem Gottesdienst“ (18 Prozent), im Zusammenhang mit einer Beichte (16 Prozent), vor oder nach dem Religionsunterricht, während oder nach einer sportlichen Aktivität oder vor oder nach einer Musikveranstaltung.

Opfer: Missbrauch vor oder nach der Beichte

In den Berichten der Opfer steht beim Kontext des Missbrauchs die Beichte (25,3 Prozent) an erster Stelle, es folgen vor oder nach dem Gottesdienst (24,3 Prozent) und vor oder nach dem Ministrantenunterricht (24,3 Prozent), während der Jugendfreizeit (19,2 Prozent), vor oder nach dem Religionsunterricht (17,3 Prozent), vor oder nach einer Musikveranstaltung oder vor, während oder nach einer sportlichen Aktivität.

Die Art der Übergriffe wurde in einer anderen Befragung erfasst. Demnach kam es in etwa 15 Prozent der Fälle zu einer Form der Penetration, die weitaus meisten Übergriffe waren intime Berührungen unter der Kleidung, oft verbunden mit Masturbation.

religion.ORF.at/AFP/KAP/APA/dpa

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