Der Tod und die Christen

Allerheiligen ist genaugenommen kein Tag des Totengedenkens, sondern eine Feier des Lebens und der Erinnerung besonders an die Heiligen, die keinen Gedenktag haben. Doch der Tod und seine Symbole scheinen gerade im Katholizismus allgegenwärtig.

Das weiß, wer regelmäßig Kirchen betritt und schon einmal unvorbereitet auf einen verzierten Schädel oder gleich eine ganze mumifizierte Leiche stieß. Reliquien (dt.: das Zurückgelassene) sind Überbleibsel von Körpern oder Gegenständen („Berührungsreliquien“), die Heiligen oder Märtyrern zugesprochen wurden. Schon die Christen der Antike verehrten Reliquien, sie haben bis heute eine große Bedeutung in der katholischen und in der orthodoxen Kirche.

Reliquie der heiligen Felicitas in der Basilika Sonntagberg in Niederösterreich

ORF.at/Clara Akinyosoye

Reliquie der heiligen Felicitas in der Basilika Sonntagberg in Niederösterreich

Dass Christen Leichname weniger bedrohlich fanden als andere Kulturen, lässt sich schon bei den frühen Gemeinden feststellen. Während etwa die Römer die Toten als gefährlich empfunden haben dürften und „mit vielfältigen Riten (...) kultische Unreinheit“ zu vermeiden trachteten, hätten Christen mit dem Leichnam nicht diesen Gedanken, sondern jenen der Hoffnung auf die Auferstehung verbunden, schreibt der deutsche Althistoriker Hartmut Leppin in seinem neuen Buch „Die frühen Christen“.

Rudolf Pacik, emeritierter Professor für Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie an der Universität Salzburg

Privat

Rudolf Pacik ist emeritierter Professor für Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie an der Universität Salzburg und ehemaliger Dekan der Theologischen Fakultät Salzburg.

Angst vor „Unreinheit“

Der Angst vor „Unreinheit“ lag zweifellos eine vernünftige und berechtigte Furcht vor Krankheiten zugrunde. Daher lagen römische Friedhöfe und auch die Katakombengräber der Frühchristen stets außerhalb der Stadt. Mit aufkommender Verehrung von Märtyrern hätten die Christen aber begonnen, Verstorbene beziehungsweise Teile ihrer Leichname und Stücke ihrer Kleidung in ihre sakralen Orte zu integrieren, sagte der Theologe Rudolf Pacik im Gespräch mit religion.ORF.at.

„Christen verbanden mit dem Totenmahl die Eucharistiefeier.“ Später blieb nur noch die Eucharistiefeier übrig. An Gedenktagen prominenter Christinnen und Christen wurde sie mit großer Gemeinde begangen. „Beim Begräbnis von Monika, der Mutter des Augustinus (387), feierte man die Eucharistie, während der Leichnam beim Grab niedergestellt war“, so Pacik. Nachweisbar ist die frühe Reliquienverehrung seit dem 2. Jahrhundert, es gibt aber auch schon im Neuen Testament Hinweise darauf, dass Schweißtücher des Paulus dazu verwendet worden seien, Kranke zu heilen und böse Geister zu vertreiben (siehe Apg 19,12).

Angebliche Schädelreliquie des hl. Valentin von Rom in Santa Maria in Cosmedin, Rom

Getty/powerofforever

Schädelreliquie, angeblich der heilige Valentin von Rom, in Santa Maria in Cosmedin, Rom

So wurde damit begonnen, über Gräbern Kirchen zu errichten, kleinere Reliquien wurden in Altäre eingebaut. Die Ostkirche habe zunächst ganze Leichname von Märtyrern in Kirchen ausgestellt, vielfach mit Gewändern und Ehrenzeichen. Erst später seien sie dann „zerstückelt“ worden, so Pacik. Speziell in der Ostkirche verwendet man bis heute Altartücher mit kleineren, eingenähten Reliquien. Dieses „Antimension“ ist notwendiger Bestandteil der Liturgiefeier.

Verstorbene von „besonderer Prominenz“

Als Reliquie verehrt wurden Verstorbene von „besonderer Prominenz“, später nicht mehr nur Märtyrer, sondern auch andere Heilige. Pacik erkennt darin eine besondere Form des Totengedenkens, wie es in allen Kulturen mehr oder weniger ausgeprägt vorkommt: „Man gedachte der Toten, doch das Gedächtnis von Christinnen und Christen, die durch ihr Leben hervorragten, beging man auf besondere Weise, man erhoffte sich von ihnen Segen und Schutz gegen Feinde.“ Das Mittelalter habe gar „Reliquiensammler“ gekannt. „Dem zugrunde liegt die Idee von der Gemeinschaft der Heiligen, wie sie das Glaubensbekenntnis erwähnt, dass alle dazugehören, auch die Toten.“

Literatur

  • Hartmut Leppin: Die frühen Christen. Von den Anfängen bis Konstantin. C. H. Beck, 512 Seiten, 30,80 Euro.
  • Jacques Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. C. H. Beck, 322 Seiten, 15,40 Euro.
  • Reiner Sörries: Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer. Wbg academic, 256 Seiten, 13,40 Euro.

Die als heilig gesehenen sterblichen Überreste wurden aber auch zur begehrten Handelsware mit hohem Wert. Praktisch jede bedeutende Kirche hatte eine oder mehrere Reliquien, häufig im oder unter dem Altar. Sie galten als „wertvoller als Gold und Edelsteine“, wie es in einem Bericht aus dem Jahr 156 über die Überreste des heiligen Polykarp von Smyrna heißt. Wurden Reliquien etwa während einer Belagerung erbeutet, sei das eine Katastrophe für eine Stadt gewesen - vor allem auch für die Motivation der Belagerten, so Pacik.

Der Krieg, die Pest und der Totentanz

Als „Memento mori“, die ständige Erinnerung an die eigene Vergänglichkeit, erfüllten sie einen weiteren Zweck. In der frühen Neuzeit, nach der Reformation und in den darauffolgenden Kriegen bis zum Dreißigjährigen Krieg kamen neue, zum Teil lokal verbreitete Totenkultphänomene auf, allen voran die „Totentänze“. Diese ab dem 14. Jahrhundert verbreitete Darstellungsform zeigt oft Gruppen von Menschen, die im Tanz mit dem Tod (dargestellt als eines oder mehrere Skelette) verbunden sind.

Der Totentanz habe „die Laienkultur mit der kirchlichen Sichtweise“ vom Tanz als „unheilvoller Belustigung“ in Verbindung gebracht, wie der französische Historiker Jacques Le Goff es formulierte: Papst, König und das einfache Volk stürzen so gemeinsam in den Abgrund. Le Goff weist auch auf mögliche Zusammenhänge zwischen der starken Verbreitung von Totentanz-Darstellungen und Pestepidemien hin.

Der Transi des Gisant Guillaume de Harcigny, im Musee de Laon, 1394

Public Domain/Wikipedia/Vassil

Der Transi des französischen Mediziners Gisant Guillaume de Harcigny (1394), Museum von Laon

Ein sehr eindrucksvolles Phänomen sind die Transi, Darstellungen der verwesenden Körper Verstorbener auf oder neben deren Gräbern. In Europa sind etwa 75 solcher „Verwesungsfiguren“ ab dem 14. Jahrhundert bekannt. Ein anderes vergessenes Totenbrauchtum sind die Totenkronen. Sie wurden seit dem 17. Jahrhundert vor allem jungen, vor der Eheschließung verstorbenen Frauen und Mädchen mit ins Grab gegebene - ein Ersatz für die nie erlangte Brautkrone, wie der deutsche Kunsthistoriker Reiner Sörries in „Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer“ schreibt.

Passionslyrik und Totenlieder

Aber nicht nur in der bildenden Kunst fand das christliche Totengedenken seinen morbiden Ausdruck. Theologe Pacik verweist auch auf barocke, dem Tod und dem Sterben gewidmete Passionslyrik und Lieder, die in der evangelischen Kirche noch „drastischer“ gewesen seien als in der katholischen, etwa das Kirchenlied „O Haupt voll Blut und Wunden“ aus dem 17. Jahrhundert.

„Die Farbe deiner Wangen, der roten Lippen Pracht ist hin und ganz vergangen; des blassen Todes Macht hat alles hingenommen, hat alles hingerafft (...)“, heißt es in der dritten Strophe, „Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod, und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot“, in der letzten. Ein anderes Beispiel ist etwa das Kirchenlied „O Ewigkeit, du Donnerwort“ von Johannes Rist (1642), woraus die bekannte Kirchenkantate Johann Sebastian Bachs entstand.

Aus Johann Caspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1775–78): Hinter der Maske der Schönheit lauert der Tod

Public Domain/Wikipedia

Aus Johann Caspar Lavaters „Physiognomischen Fragmenten“ (1775–78): Hinter der Maske der Schönheit lauert der Tod

„Es ist alles ganz eitel“

Theologe Pacik nennt das im Gespräch mit religion.ORF.at ein „allgemeines Lebensgefühl in der Barockzeit“ - die Inszenierung von allem, bis hin zum Tod. Sehr klar kommt das in den in dieser Zeit beliebten Vanitas-Darstellungen zum Ausdruck: Ein hübsches, gesund aussehendes Gesicht wird typischerweise als Larve vor einem grinsenden Schädel inszeniert. Den Ursprung dieser Darstellungen findet man in der Bibel, wie Pacik erinnert: „Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel“ (Koh 1,2, Lutherbibel). Und weiter (Koh 1,4, Einheitsübersetzung) heißt es dort: „Eine Generation geht, eine andere kommt. Die Erde steht in Ewigkeit.“

Johanna Grillmayer, religion.ORF.at

Links: