Ost-West-„Kluft“ bei Religion und Werten in Europa

Menschen in Ost- und Westeuropa unterscheiden sich in ihren Ansichten zur Bedeutung von Religion, Einstellungen gegenüber Minderheiten und ihren Meinungen zu wichtigen sozialen Fragen, so eine großangelegte Studie des Washingtoner Pew Research Centers.

So seien Mittel- und Osteuropäer und -Europäerinnen zum Beispiel weniger bereit, Muslime und Juden, gleichgeschlechtliche Ehen und legale Abtreibungen zu akzeptieren, heißt es in der am Montag präsentierten Studie „How Western and Eastern Europeans Differ on Religion and Social Issues“. Sie ortet „große Unterschiede in den Einstellungen der Öffentlichkeit zu Religion, Minderheiten und sozialen Themen wie gleichgeschlechtliche Ehe und legale Abtreibung“.

Toleranz gegenüber Andersgläubigen

Im Vergleich zu Westeuropäern würden weniger Mittel- und Osteuropäer Muslime und Musliminnen oder Jüdinnen und Juden in ihren Familien oder Nachbarschaften willkommen heißen, das Recht zu heiraten auf schwule oder lesbische Paare erweitern oder die Definition von nationaler Identität auf Personen ausweiten, die außerhalb ihres Landes geboren sind.

Diese Unterschiede ergeben sich aus einer Reihe von Umfragen, die das Pew Research Center zwischen 2015 und 2017 unter fast 56.000 Erwachsenen (18 Jahre und älter) in 34 west-, mittel- und osteuropäischen Ländern durchführte. Bei Fragen zu Einstellungen gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen wurden die Mitglieder dieser Gruppen nicht über ihre eigene Gruppe befragt - also Muslime nicht über andere Muslime etc.

Diese Unterschiede bestehen mehr als ein Jahrzehnt, nachdem die Europäische Union begann, sich weit über ihre westeuropäischen Wurzeln hinaus auszudehnen, um unter anderen mitteleuropäischen Länder Polen und Ungarn und die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen aufzunehmen.

Teils extreme „kontinentale Kluft“

Diese „kontinentale Kluft“ in Einstellungen und Werten kann in einigen Fällen extrem sein. Zum Beispiel sagen in fast allen mittel- und osteuropäischen Ländern weniger als die Hälfte der Erwachsenen, dass sie bereit wären, eine Muslimin oder einen Muslim als Familienmitglied zu akzeptieren; in fast jedem befragten westeuropäischen Land sagen mehr als die Hälfte, dass sie dazu bereit wären. Eine ähnliche Kluft ergibt sich zwischen Mittel-/Osteuropa und Westeuropa hinsichtlich der Aufnahme von Juden und Jüdinnen in die eigene Familie.

Grafik aus einer Pew-Studie über Werthaltungen in Ost- und Westeuropa

Pew Rearch Center

Grafik aus der Pew-Studie zur Einstellung gegenüber Muslimen in Ost- und Westeuropa

In einer separaten Frage sagen Westeuropäer weit häufiger als ihre mittel- und osteuropäischen Nachbarn, dass sie Muslime in ihrer Nachbarschaft akzeptieren würden. Zum Beispiel gaben 83 Prozent der Finnen an, dass sie bereit wären, Muslime als Nachbarn zu akzeptieren, verglichen mit 55 Prozent der Ukrainer. Und obwohl die Kluft weniger ausgeprägt ist, sind Westeuropäer laut Studie auch eher geneigt, Juden in ihren Wohnvierteln zu akzeptieren.

Verständnis nationaler Identität

„Einstellungen gegenüber religiösen Minderheiten in Europa gehen Hand in Hand mit unterschiedlichen Verständnissen von nationaler Identität“, so die Studie. Als sie im Einflussbereich der Sowjetunion waren, wurde in vielen mittel- und osteuropäischen Ländern Religion offiziell aus der Öffentlichkeit verdrängt. Heute hingegen sei „für die meisten Menschen, die im ehemaligen Ostblock leben, Christ sein (ob katholisch oder orthodox) ein wichtiger Bestandteil ihrer nationalen Identität“.

In Westeuropa hingegen würden die meisten Menschen Religion nicht als wesentlichen Teil ihrer nationalen Identität sehen. In Frankreich und in Großbritannien zum Beispiel gaben die meisten an, dass es nicht wichtig sei, Christ zu sein, um „ein wahrer Franzose oder ein wahrer Brite“ zu sein. Doch passen nicht alle Länder in dieses Schema.

Juden und Muslime: Weniger Akzeptanz im Osten

Die Tschechische Republik beispielsweise war Teil des Ostblocks und blieb ein sehr konfessionsloses Land. Heute sagen nur wenige Tschechen, dass das Christentum ein wichtiger Bestandteil ihrer nationalen Identität sei. Doch die meisten Tschechen gaben in den Umfragen an, sie wären nicht bereit, Muslime als Familienmitglieder zu akzeptieren, und nur etwa die Hälfte würde Juden als solche begrüßen.

Ähnlich ist es in Lettland und Estland, wo die überwiegende Mehrheit der Menschen sagt, Christin oder Christ zu sein (insbesondere lutherisch) sei für ihre nationale Identität nicht wichtig. Dennoch sind relativ wenige Letten und Esten bereit, Muslime als Familienmitglieder oder Nachbarn zu akzeptieren.

Kulturchauvinismus im Ost-West-Gefälle

Ein allgemeines Ost-West-Muster zeigt sich auch in Bezug auf mindestens einen weiteren Aspekt von Nationalismus: Kulturchauvinismus. In den Umfragen wurden die Befragten auf dem gesamten Kontinent gefragt, ob sie der Aussage zustimmen: „Unser Volk ist nicht perfekt, aber unsere Kultur ist anderen überlegen.“ Obwohl es Ausnahmen gibt, sind die Mittel- und Osteuropäer laut Pew-Studie eher geneigt zu sagen, dass ihre Kultur überlegen sei.

Diese und andere Fragen über nationale Identität, religiöse Minderheiten und kulturelle Überlegenheit scheinen dem Pew Center „zusammen betrachtet eine europäische Spaltung zu verdeutlichen, mit hohem religiösem Nationalismus im Osten und mehr Offenheit gegenüber Multikulturalismus im Westen“. Andere Fragen, die in der Umfrage gestellt wurden, verweisen auf eine weitere „Wertelücke“ zwischen Ost und West in Bezug auf wichtige soziale Fragen wie gleichgeschlechtliche Ehe und legale Abtreibung.

Gleichgeschlechtliche Ehe spaltet

In jedem befragten westeuropäischen Land befürworten Mehrheiten die gleichgeschlechtliche Ehe, in fast allen dieser Länder ist sie rechtlich anerkannt. In Mittel- und Osteuropa ist die öffentliche Meinung der Studie zufolge völlig anders, in fast allen befragten Ländern sprechen sich Mehrheiten dagegen aus, dass Schwule und Lesben gesetzlich heiraten können. Keines der befragten mittel- und osteuropäischen Länder erlaubt gleichgeschlechtliche Ehen.

Priester bei einer Messe in Brno, Tschechische Republik

APA/AFP/Joe Klamar

Katholische Priester bei einer Messe in Brno, Tschechische Republik: Das ehemalige Ostblockland ist heute weitgehend konfessionslos.

In einigen Fällen werden diese Ansichten fast universell vertreten. So sind etwa neun von zehn Russen gegen die legale gleichgeschlechtliche Ehe, während ähnlich einseitige Mehrheiten in den Niederlanden, Dänemark und Schweden dafür sind, dass schwule und lesbische Paare gesetzlich heiraten können.

Thema Abtreibung: Osten vielfältiger

Obwohl Abtreibung generell sowohl in Mittel-/Ost- als auch in Westeuropa legal ist, gibt es auch zu diesem Thema regionale Unterschiede in den Ansichten dazu. In jeder befragten westeuropäischen Nation, einschließlich der stark katholischen Länder Irland, Italien und Portugal, sagen sechs von zehn oder mehr Erwachsene, dass Abtreibung in allen oder den meisten Fällen legal sein sollte. Im Osten sind die Ansichten vielfältiger.

Einige mittel- und osteuropäische Länder wie die Tschechische Republik, Estland und Bulgarien befürworten legale Abtreibungen. Aber in einigen anderen Ländern, darunter Polen, Russland und der Ukraine, neigt sich das Meinungsbild in die andere Richtung, Befragte dort sagen mit größerer Wahrscheinlichkeit, dass Abtreibung größtenteils oder gänzlich illegal sein sollte.

Spaltung könnte anhalten

Die Umfrageergebnisse deuten darauf hin, dass die „regionale Spaltung Europas in Bezug auf gleichgeschlechtliche Ehe auch in Zukunft anhalten“ könnte: In den meisten Ländern Mittel- und Osteuropas nehmen junge Erwachsene nur eine geringfügig weniger ablehnende Haltung zur Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe ein als ältere Menschen.

Zum Beispiel sind 61 Prozent der jüngeren Esten (18 bis 34 Jahre alt) gegen die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe in ihrem Land, verglichen mit 75 Prozent der über 35-Jährigen. In dieser Hinsicht lehnen junge estnische Erwachsene mit einer sechsmal höheren Wahrscheinlichkeit die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen ab als ältere Erwachsene in Dänemark (zehn Prozent).

Junge Osteuropäer konservativer

Dieses Muster gilt für die gesamte Region: Junge Erwachsene in fast jedem mittel- und osteuropäischen Land sind in dieser Frage viel konservativer als jüngere und ältere Westeuropäer. Wenn es um Einstellungen gegenüber Muslimen und Juden geht, sind junge Erwachsene in den meisten Ländern Mittel- und Osteuropas ebenfalls nicht toleranter als ihre Ältesten.

Folglich bringe „diese jüngere Generation in Mittel- und Osteuropa mit einer viel geringeren Wahrscheinlichkeit als ihre Altersgenossen in Westeuropa zum Ausdruck, Muslimen oder Juden als Familienmitglied offen gegenüber zu stehen“, so das Pew Research Center. Zum Beispiel sagen 36 Prozent der polnischen Erwachsenen unter 35, dass sie bereit wären, Muslime in ihrer Familie zu akzeptieren, weit unter den zwei Dritteln der jungen französischen Erwachsenen, die sagen, dass sie bereit wären, Muslime als Familienmitglied aufzunehmen.

gril, religion.ORF.at

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