Leyla Hussein: „Weg mit dem Patriarchat!“

Die muslimische Aktivistin Leyla Hussein engagiert sich gegen Gewalt an Frauen, insbesondere gegen weibliche Genitalverstümmelung (FGM). Anlässlich des Internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen am 25. November nimmt sie sich kein Blatt vor den Mund.

Sie nennt die Praxis von Kinderehen „Pädophilie“, weibliche Genitalverstümmelung „schwere sexuelle Körperverletzung an Kindern“ und das Patriarchat „Dreck“. Hussein, 1980 in Somalia als Tochter gebildeter und wohlhabender Eltern geboren, lebt heute in Großbritannien.

Sie ist Psychotherapeutin und engagiert sich auf vielfältige Weise gegen weibliche Genitalverstümmelung („female genital mutilation“), etwa indem sie Bewusstseinsarbeit mit jungen Männern macht. Ihr Ziel ist, aufzuklären und bestimmte Mythen auszuräumen. Allen voran, dass die grausame Praxis vom Islam vorgeschrieben werde. Das stimme so nicht, sagte sie im Interview.

Leyla Hussein

APA/AFP/Berit Roald/NTB Scanpix

Leyla Hussein

Genitalverstümmelung keine islamische Praxis

religion.ORF.at: Leyla Hussein, Sie stammen aus Somalia und sind später nach Großbritannien gegangen. Wie sieht der Islam aus, den Sie als Kind kennengelernt haben?

Leyla Hussein: Der Islam, in dem ich aufgewachsen bin, ist nicht der Islam, von dem wir heute hören. Der Islam, in dem ich aufgewachsen bin, hat uns nicht genötigt, ein Kopftuch zu tragen oder zu beten. Ich wurde als Mädchen nicht anders behandelt als die Buben. Nur eines wurde mir als religiöse Pflicht vermittelt, und das war FGM. Später habe ich herausgefunden, dass das nicht zu meiner Religion gehört. Später habe ich herausgefunden, dass das nur in 20 Prozent der muslimischen Welt geschieht. Fazit: Das ist definitiv keine islamische Praxis.

Hinweis

Hier können Sie den Ö1-Beitrag zu dem Thema nachhören.

religion.ORF.at: Das machen Sie auch in dem Film „#Female Pleasure“ deutlich, nicht nur muslimischen, sondern auch christlichen Zuhörern gegenüber. Die Beschneidung ist ja auch in christlichen Gemeinschaften verbreitet – in Ägypten zum Beispiel. Sie treten dabei offen als Muslimin auf.

Die Religion zurückfordern

Hussein: Normalerweise, wenn kritisch über den Islam gesprochen wird, dann sind diese Kritikerinnen nicht muslimische Frauen. Oder Frauen, die aus dem Islam ausgestiegen sind. Es kommt vergleichsweise selten vor, dass bekennende Musliminnen kritisch an die Öffentlichkeit gehen. Genau das ist meine Rolle in dem Film.

Ich finde, es sind nur wenige Musliminnen, die die Frauenbewegung als Plattform wahrnehmen und nutzen. Frauen, die islamkritisch sind, entschließen sich oft, diese Religionsgemeinschaft zu verlassen. Und das ist das Besondere an diesem Film: Von fünf Frauen sind wir drei, die sagen: „Wir stehen zu unserer Religion.“ Ich sehe es so: Patriarchalisch orientierte Männer haben Religionen in Geiselhaft genommen. Und es ist wichtig, dass wir auftreten und unsere Religionen zurückfordern.

religion.ORF.at: Wie könnte das geschehen? Können Sie Beispiele nennen?

Hussein: Man hört nie etwas über Chadidscha. Sie war die erste Frau des Propheten Mohammed. Sie war seine Vorgesetzte - und sie war 20 Jahre älter als er. Niemand spricht darüber. Er hat für sie gearbeitet. Er hat sie geheiratet, weil sie so mächtig war - das war sein Grund.

Patriarchat, „verpiss dich“

Aber von dieser Seite des Islams hört man heute nichts. Stattdessen hört man, dass Schülerinnen verheiratet werden, dass Männer Frauen kontrollieren. Für mich als Muslimin ist es wichtig, diese tatsächlichen Grundlagen wieder hervorzuholen. Muslimische Mädchen brauchen Frauen, die sagen: „Dreck!“ Und: „Verpiss dich!“ Und: „Weg mit dem Patriarchat!“

religion.ORF.at: Das sind recht drastische Worte

Hussein: Ich sage die Dinge, wie sie sind. Ich nenne FGM nicht eine „kulturelle Praxis“. Ich sage zu Frauen in meiner Community: Ihr seid Gewalttäterinnen. Wenn eine Mutter das hört, dass es hier um Gewalt geht, dann öffnet ihr das die Augen. Im Film sage ich, ich mag den Ausdruck „weibliche Genitalverstümmelung“ nicht. Es ist eine schwerwiegende sexuelle Körperverletzung an Kindern. So muss man das nennen. Darum geht es.

Ich vergleiche es gern mit dem Ausdruck „Kinderbräute“ - das klingt ja nicht gar so schlimm, da geht es schließlich um die Ehe, sie werden verheiratet. Aber Kinder kann man nicht verheiraten. Nennen wir die Dinge doch beim Namen: Hier geht es um Pädophilie.

Leyla Hussein

Filmladen

Szene aus dem Dokumentarfilm „#Female Pleasure“

Aussteigen aus dem System

religion.ORF.at: Nun wird im Zusammenhang mit FGM oft gesagt, dass da ja gerade die Frauen die Schuldigen seien. Sie sind es, die Mädchen das antun. Sie sind es, die das ihren Töchtern aufzwingen. Was sagen Sie dazu?

Hussein: In diesen Communitys steht da ein ganzes System dahinter. Wenn eine Mutter das nicht für ihre Tochter organisiert, dann wird sie als Mutter verurteilt. Was immer sie macht in dieser Situation - es ist falsch. Wenn sie ihre Tochter nicht beschneiden lässt, dann verliert diese viele Möglichkeiten. Sie kann keine guten Schulen besuchen, in keine gute Familie einheiraten. Die Frauen werden in dieses System hineingezwungen.

Ich habe für ein Projekt mit ehemaligen Beschneiderinnen gesprochen. Mit zwölf Jahren hat man begonnen, sie dafür auszubilden. Viele sind dazu gezwungen worden. Manche sind alkohol- oder drogenabhängig geworden. Man hat sie gezwungen, und sie konnten es nicht ertragen. Das muss man wissen, wenn man sagt: Hier üben Frauen Gewalt an Frauen aus.

Wir müssen ihnen auch Ausstiegsmöglichkeiten bieten, andere Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Und die Männer stehen gut da, weil sie nicht direkt involviert sind. Aber sie halten das Ganze am Laufen. Ich erinnere mich an einen Mann, einen Dorfvorsteher in Senegal. Er hat das seinen Töchtern nicht angetan. Und daraufhin haben auch alle anderen damit Schluss gemacht. Ich habe ihn gefragt: Sind Sie auf Widerstand gestoßen? Und er hat gesagt: „Nein - ich darf das. Ich bin ein Mann.“ Ich wünschte, mehr Männer würden das so machen. Sie hätten die Macht, Frauen davor zu bewahren.

„Das ist nicht mein Islam“

religion.ORF.at: Im Islam gibt es ja auch abgesehen von FGM Gewalt gegen Frauen. Man denke nur – und das ist wohl nicht mehr als die Spitze eines Eisberges – an Todesurteile durch Steinigung.

Hussein: Das ist der neue Islam. Der neue Islam sagt: Frauen sollen gesteinigt werden. In dem Koran, den ich gelesen habe, steht nichts von Steinigung. Aber so ist das jetzt. Es ist absolut grässlich. Frauen werden gesteinigt. Und in den USA waren bis vor nicht allzu langer Zeit Minderjährige in den Todeszellen. Für mich ist das vergleichbar: kein Respekt vor dem Leben der Schwachen.

Dieses Steinigen von Frauen ist ja Wahnsinn: Man braucht einer Frau nur nachsagen, sie hätte eine Affäre gehabt - und es kann passieren, dass sie gesteinigt wird. Ihm - ihrem mutmaßlichen oder tatsächlichen Liebhaber - passiert gar nichts. Das ist krank! Immer ist die Frau die Schuldige. Das ist nicht mein Islam! Ich wünschte, die Leute würden erkennen, dass das Wort „Islam“ eigentlich „Frieden“ bedeutet.

„Gegen den Schwachsinn aktiv werden“

Wenn eine Religion „Frieden“ heißt - und sie ist mit so viel Gewalt verbunden -, dann muss man das doch hinterfragen. Und ich finde, muslimische Frauen müssen sich aus der Deckung wagen und diese Dinge infrage stellen. Wir können diesen Schwachsinn nicht einfach verteidigen - wir müssen dagegen aktiv werden!

religion.ORF.at: Nun könnte man natürlich sagen: Wenn im Namen der Religion und der Religionen den Frauen so viel Leid angetan wird – wäre es dann nicht besser, Religion so weit wie möglich hintanzuhalten? Sollte man da nicht bewusst gegen Religion eintreten?

Hussein: Es geht da nicht um Islam, Christentum oder Judentum. Es geht um eine andere, allgegenwärtige Religion - und die heißt „Patriarchat“. Und ich hoffe, der Film bringt das aufs Tapet.

Das Interview führte Brigitte Krautgartner für religion.ORF.at

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