Große Gefühle: Wie Weihnachtslieder wirken

Weihnachten wird erst durch die Lieder zu dem stimmungsvollen Ereignis, das sich viele wünschen. Sie stellen einen emotionalen Bezug zur Geburtsgeschichte von Jesus Christus her, aber sie wirken auch auf anderen Ebenen. Eine Spurensuche fern von Kaufhausmusik.

Weihnachtslieder singt man ab dem 24. Dezember - das unterscheidet sie von Adventliedern, die ganz auf das Warten ausgerichtet sind. Natürlich vermischen sich die Liedformen im Alltag miteinander, vielen ist gar kein Unterschied bewusst.

Viele traditionelle Weihnachtslieder sind sehr alt, sie haben ihren Ursprung im Mittelalter. Die sogenannten Leisen (von „Kyrie Eleison“, „Herr, erbarme dich“, das jeweils am Ende gesungen wurde), einstrophige Gesänge, die in Festmessen und bei Prozessionen gesungen wurden, gelten als Vorbilder für spätere Kirchen- und Weihnachtslieder. Die Abstammung von Leisen sei „meistens ein Hinweis auf einen mittelalterlichen Ursprung“, erklärte der Salzburger emeritierte Professor für Liturgiewissenschaft, Rudolf Pacik, im Gespräch mit religion.ORF.at.

Rätsellied „Es ist ein Ros entsprungen“

Ein Beispiel ist etwa „Gelobet seist du Jesu Christ“, dem ursprünglich einstrophigen Lied aus dem 14. Jahrhundert hat Martin Luther im 16. Jahrhundert weitere Strophen hinzugefügt. Ein anderes sehr altes Lied ist das bekanntere „In dulci jubilo“. Es ist wie für aus Leisen entwickelte Lieder charakteristisch in einer lateinisch-deutschen Sprachmischung geschrieben; der Text stammt aus dem 15. Jahrhundert.

Text des Weihnachtsliedes "Es ist ein Ros entsprungen", Erstdruck im Speyerer Gesangbuch von 1599

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„Rätsellied“: „Es ist ein Ros entsprungen“, Erstdruck im Speyerer Gesangbuch von 1599, Ausschnitt

Zu den ältesten noch oft gesungenen Weihnachtsliedern gehört auch „Es ist ein Ros entsprungen“. Es entstand im 16. Jahrhundert und ist besonders interessant, „weil es eine Art Rätsellied ist“, so Pacik. Es nimmt direkt Bezug auf eine Bibelstelle (Jes 11;1). So ist die „Wurzel zart“ Isai (Jesse), Vater des David. Der Rosenstock ist „Maria, die Reine“ und „das Blümlein" natürlich Jesus. Die zweite Strophe bringt die Auflösung. Das ist ziemlich einzigartig“, sagte der Experte. Später wurden weitere Strophen dazugedichtet.

In einer mystischen Tradition stehen „Zu Bethlehem geboren“ von Friedrich Spee (1637) und sein „evangelisches Gegenstück“, „Ich steh an deiner Krippen hier“ von Paul Gerhardt (1653). Zweites ist Teil von Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium. Dahinter steht eine alte Form der Spiritualität, die „compassio“, lat. „Mitfühlen“. „Das Leiden Christi, aber auch die Geburt steht im Mittelpunkt dieser Tradition, die aus dem Mittelalter stammt. Aus dieser Spiritualität entstehen solche Lieder, in denen Christus in der Krippe direkt angesprochen wird“, so Pacik.

Weihnachtliche „Jesus-Minnelieder“

Das seien keine Idyllen a la „liebes Jesulein“, vielmehr gehe es darum, sich mit Jesus durch den Gesang zu verbinden. Das Lied „Zu Bethlehem geboren“ etwa hat im Original die Überschrift „Herzopfer“ - das verrät schon, dass es um starke Gefühle gehen soll. „Jesus in der Krippe anzusprechen hat durchaus erotische Züge“, so der Experte. Solche „Jesus-Minnelieder“, die in der Tradition der „compassio“ stehen, haben natürlich nichts mit Pädophilie zu tun, sie zeigen aber eine starke Sinnlichkeit.

Anbetung der Hirten 1535–1540, Bronzino

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Anbetung der Hirten 1535–1540, Bronzino (Ausschnitt)

Wie zum Beispiel in der fünften und sechsten Strophe von „Ich steh an deiner Krippen hier“: „Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht sattsehen. Vergönne mir, o Jesulein, Daß ich dein Mündlein küsse.“ Andere Lieder, besonders „Resonet in laudibus“ (spätere deutsche Fassung: „Josef, lieber Josef mein“) aus dem 14. Jahrhundert, spielten eine Rolle beim Brauch des „Kindlwiegens“, das ab dem Mittelalter bekannt ist. Jesuspuppen aus Holz oder Wachs wurden unter Gesängen in Wiegen gewiegt. Der Brauch wurde in Klöstern, Kirchen, aber auch privat gepflegt.

Im Hier und Jetzt verankern

Eine andere Funktion, die Weihnachtslieder erfüllen, ist das Verankern der Gläubigen im Hier und Jetzt, was man schon an den Titeln merkt: „Heute ist uns der Heiland geboren (...), der heut schließt auf sein Himmelreich und schenkt uns seinen Sohn“, „Nun freut euch, ihr Christen“. „Das Heute spielt in der Liturgie überhaupt eine wichtige Rolle“, sagte Theologe Pacik, „was damals geschehen ist, wirkt bis in unsere Zeit nach und wird in gewisser Weise Gegenwart.“

Rudolf Pacik

Rudolf Pacik ist emeritierter Professor für Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie an der Universität Salzburg und ehemaliger Dekan der Theologischen Fakultät Salzburg.

Das 19. Jahrhundert brachte im deutschsprachigen Raum eine Renaissance alter Weihnachtslieder: Das bürgerliche Weihnachten war gerade erfunden, und entsprechendes Liedgut wurde gebraucht. Ein Beispiel hierfür ist das bäuerlich anmutende „Es wird schon glei dumpa“, eine Art weihnachtliches Wiegenlied. Die Melodie reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück, der oberösterreichische Pfarrer Anton Reisinger dichtete es im 19. Jahrhundert um.

„Klassische Weihnachtslieder gehen theologisch viel tiefer. Viele Motive, die darin vorkommen, finden sich schon in den liturgischen Texten, etwa in den Tagesgebeten und in den Antiphonen (Gegen- oder Wechselgesang, Anm.) der Weihnachtsmessen und des Stundengebetes“, so Pacik.

Der „wunderbare Tausch“

Ein wichtiges Motiv ist der „wunderbare Tausch“: Gott wird ein armes Kind, er nimmt die Menschennatur an, damit wir an der göttlichen Natur teilhaben können. Ähnlich das Paradoxon: Der große Gott wird ein kleines, schwaches Kind. Das steirische „O Jubel, o Freud“ etwa betont das besonders eindringlich: „Ist das nicht ein Spott, der so große Gott, der uns hat erschaffen, beim Vieh tut er schlafen.“

Krippenszene von Gaudenzio Ferrari, Fresko, ca. 1515, Kirche Madonna di Loreto, Roccapietra, Italien

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Krippenszene von Gaudenzio Ferrari, Fresko, ca. 1515, Kirche Madonna di Loreto, Roccapietra, Italien

Einige Weihnachtslieder seien früher als Krippenspiele inszeniert worden, so Pacik, etwa Luthers „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. „Wenn man sich die ursprünglich 15 Strophen anschaut, erkennt man mehrere Stationen: Der Engel verkündet Jesu Geburt; die Hirten brechen auf und kommen zur Krippe; sie halten Zwiesprache mit dem Kind." Viele Lieder waren ursprünglich um einiges länger, scheint nur eine Auswahl der Strophen auf. Der poetische Duktus ist in den Kurzformen nicht mehr ganz erkennbar.“

Nazis dichteten Lieder um

Im Nationalsozialismus wurden bekannte Lieder übrigens zum Teil verändert - so wurde „von Jesse war die Art“ zu „von wunderbarer Art“. „Für neue Lieder verwendeten die Nazi-Dichter Archetypen: Mutter und Kind, Winter, klare Nacht und Sterne, Sonnenwende; mit solchen Worten assoziierten die Leute Weihnachten, obwohl gar kein Bezug zum Christentum mehr übrig war“, erklärte der Theologe.

Ältestes „Stille Nacht“-Video

Im Filmarchiv Austria wurde kürzlich eine Filmrolle aus 1910 gefunden, die die historische Wirkung des Liedes „Stille Nacht, heilige Nacht“ verdeutlicht.

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Das berühmteste Weihnachtslied von allen, „Stille Nacht“, habe darunter gelitten, dass es in vielen Kirchen die ganze Weihnachtszeit hindurch gesungen wird. Ursprünglich sei es nur vor der Krippe in der Christmette gesungen worden. Es schon viele Tage vor Weihnachten zu singen entwerte das Lied natürlich auch. Und: „Wir singen immer nur drei Strophen - das sind aber die, die am theologisch dünnsten sind.“

Schon manche Gesangbücher des 19. Jahrhunderts enthalten nur die Strophen 1, 6 und 2 (also in geänderter Reihenfolge); die drei anderen, 3, 4 und 5, wurden vielfach aufgegeben. Die drei gesungenen Strophen sind jene, die gefühlsmäßig gut rüberkommen, die emotional am stärksten ansprechenden. Denn auch wenn Ostern für Christen streng genommen das „wichtigere“ Fest ist: Weihnachten ist viel stärker emotional besetzt.

Johanna Grillmayer, religion.ORF.at

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