Faktencheck zu Obdachlosenzahlen

In der ORF-„Pressestunde“ am Sonntag hat Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) von 15.000 Obdachlosen in Wien gesprochen. Dass diese Zahl zu hoch gegriffen ist, ist einer Studie der Statistik Austria und Daten des Fonds Soziales Wien zu entnehmen.

Über das gesamte Jahr seien rund 15.000 Menschen in ganz Österreich als obdachlos registriert, sagte Christoph Ertl, Pressesprecher des Fonds Soziales Wien, auf Anfrage von religion.ORF.at. Diese Zahl habe wohl auch Bundeskanzler Kurz gemeint. Die Statistik Austria fasst unter dem Begriff „registrierte Wohnungslosigkeit“ jene Personen mit Hauptwohnsitzbestätigung (Meldung „O“ im Melderegister) sowie Personen, die in einer Einrichtung für wohnungslose Menschen gemeldet sind, zusammen. „Sie sind beispielsweise auch obdachlos, haben aber ein Tageszentrum als Adresse hinterlegt“, so Ertl.

Eine Sozialarbeiterin überreicht einem obdachlosen Mann einen Schlafsack vor dem Caritas-Kältebus

Caritas/Klaus Pichler

Der Caritas-Kältebus hilft Menschen, die auf der Straße leben

„Ganz generell: Wer auch immer versucht, die Frage nach der Anzahl von Obdachlosen genau zu beantworten, handelt unseriös. Wir wissen es nicht, weil es keine entsprechenden Untersuchungen gibt“, so der Experte. Doch mit Hilfe einiger vorhandener Daten ließen sich die Dimensionen ganz gut einschätzen.

3.200 nutzten Wiener Winterpaket

So gab es im Rahmen der Winterpaket-Aktion 2017/18 der Wiener Wohnungslosenhilfe im gesamten Angebotszeitraum (November bis April) rund 3.200 Nutzerinnen und Nutzer. „Das geht von einmal in der Wärmestube aufgewärmt bis den gesamten Zeitraum in einem Nachtquartier verbracht“, sagte Ertl. Im vergangenen Winter musste auf Wiens Straßen kein Mensch erfrieren, wie die Caritas Wien in einer Bilanz vom März 2018 feststellte.

„15.000 Obdachlose in Wien“

Am Sonntag in der ORF-„Pressestunde“ sprach Kanzler Kurz über Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Mindestsicherung.

Übrigens versorge Wien durch das Winterpaket auch einige Menschen aus den umliegenden Bundesländern mit - „die Angebotssituation in Niederösterreich, Steiermark und Burgenland ist im ländlichen Bereich natürlich nicht mit Wien vergleichbar“.

Dazu kommen beim Winterpaket auch Menschen aus dem Ausland, die wegen der strengen Gesetze gegen Obdachlosigkeit im eigenen Land (Stichwort Ungarn) und ungenügender Schlafplätze in Wien landen. Laut einer Erhebung mache der Prozentsatz jener Menschen aus dem Ausland, die extra für das Winterpaket kommen, aber nur rund fünf Prozent aus, so der Pressesprecher des Fonds Soziales Wien.

11.000 bei Wohnungslosenhilfe

Die Wiener Wohnungslosenhilfe hatte im ganzen Jahr 2017 rund 11.000 Kundinnen und Kunden. „Die Palette des Angebots reicht hier von Beratung, mobiler Wohnbetreuung, aufsuchender Sozialarbeit, Übergangswohnen und betreuten Wohneinrichtungen bis hin zu Tageszentren und Akuthilfe durch Nachtquartiere“, sagte Ertl.

Generell sei es wichtig, zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit zu unterschieden, so Alexander Machatschke, Leiter des Kompetenzzentrums Armut der Caritas Österreich, gegenüber religion.ORF.at. „Verkürzt gesagt gelten Menschen, die auf der Straße oder in Notquartieren schlafen, als obdachlos, Menschen, die befristet in Einrichtungen wohnen, als wohnungslos.“ Andere, besonders Frauen, fänden auch oft vorübergehend bei Verwandten oder Freunden Unterschlupf und würden so aus der Statistik fallen, so Ertl.

Lineargrafik zur Wohnungslosigkeit in Österreich 2008 bis 2017

Grafik: ORF.at; Quelle: Statistik Austria

21.567 Wohnungslose 2017 in Österreich

Zur Wohnungslosigkeit in Österreich gibt es eine relativ neue Studie der Statistik Austria. Laut dieser lag die Zahl der registrierten Wohnungslosen im Jahr 2017 in ganz Österreich bei 21.567 Personen. Das waren um 3.798 Personen mehr als im Jahr 2008, in dem 17.769 Wohnungslose erfasst wurden (plus 21 Prozent). Die Jahresgesamtzahl belief sich im Jahr 2017 auf rund 13.900 registrierte Obdachlose und 8.700 Personen in Einrichtungen für Wohnungslose.

Obdachlosigkeit

Obdachlos sind Personen, die im öffentlichen Raum übernachten, weil sie keinen festen Wohnsitz haben. Obdachlos sind auch Menschen, die in Not- oder Behelfsunterkünften oder in Nachtquartieren übernachten. Ein anderer Begriff für Obdachlosigkeit ist akute Wohnungslosigkeit.

Auf die Studie der Statistik Austria verwies übrigens auch das Bundeskanzleramt (BKA) in einer E-Mail am Donnerstagabend an religion.ORF.at. Laut BKA waren in Wien 12.817 Menschen als wohnungslos gemeldet. Zudem kämen österreichweit noch 8.700 Personen hinzu, die in Einrichtungen für Wohnungslose gemeldet sind, „davon fällt wieder ein hoher Anteil auf Wien, weil es gerade in Wien viele Einrichtungen gibt“, argumentiert das BKA. „Was hier insgesamt noch fehlt, ist die Dunkelziffer, die in der Statistik nicht erfasst ist.“

Die Studie mit dem Titel „Eingliederungsindikatoren 2017“ liefert aber noch andere Erkenntnisse. So waren von den rund 21.500 Wohnungslosen in Österreich etwa 41 Prozent einige Zeit in einer Einrichtung für Wohnungslose untergebracht. Seit dem Jahr 2014 habe sich die Zahl der Betroffenen leicht verringert. „Diese Menschen hatten im Melderegister entweder einen Vermerk als Obdachlose (Hauptwohnsitzbestätigung) oder waren in einer Einrichtung für Wohnungslose gemeldet. Die Anzahl der Personen, die in Einrichtungen erfasst wurden, blieb über diesen Zeitraum annähernd unverändert. Das liegt auch daran, dass in dieser Berechnung neue Einrichtungen für Wohnungslose sowie spezialisierte Einrichtungen wie Frauenwohnhäuser oder Flüchtlingsunterkünfte nicht berücksichtigt werden“, heißt es in der Studie.

Eine Bewohnerin von "Juca", einer Caritas-Einrichtung in Wien für wohnungslose Jugendliche

APA/Georg Hochmuth

Wohnungslos ist nicht gleich obdachlos: Eine Bewohnerin von „Juca“, einer Caritas-Einrichtung für wohnungslose Jugendliche in Wien

Zusammenhang mit Wohnungs- und Arbeitsmarkt

Wohnungslosigkeit trete nicht als rein individuelles Phänomen auf, sondern stehe in Zusammenhang mit den Entwicklungen des Wohnungs- und Arbeitsmarktes, steht in der Statistik-Austria-Studie. Vor allem die in Privathaushalten beobachtbare Wohnkostenbelastung sowie damit zusammenhängende Wohnprobleme wie Überbelag und sehr schlechte Wohnqualität seien „Anzeichen der Verletzlichkeit und können zukünftiger Wohnungslosigkeit vorangehen“.

Wohnungslosigkeit

Wohnungslos sind Personen, die keinen eigenen Wohnraum haben. Sie leben in Häusern der Wohnungslosenhilfe, Frauenhäusern etc. Wohnungslos sind auch Personen, die nach der Entlassung aus Gefängnissen oder Spitälern nicht in eine Wohnung zurückkehren können, und Menschen, die etwa wegen bevorstehenden Wohnungsverlusts von Obdachlosigkeit bedroht sind.

Die Grenzen zwischen Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit und Armut sind fließend: Es kämen auch Menschen, die eine eigene Wohnung haben, in die Wärmestuben - weil ihnen das Geld fehlt, um ihre vier Wände zu heizen, sagte Ertl vom Fonds Soziales Wien. Die geplante Kürzung der Mindestsicherung werde die Situation weiter verschärfen - speziell für Familien.

Die vorliegenden Daten beweisen laut Studie eine starke Dynamik der registrierten Wohnungslosigkeit. Auf Basis der Daten aus den Jahren 2016 und 2017 wurden 13.124 Neuzugänge in ganz Österreich zu dieser Personengruppe gezählt. Das bedeutet laut Statistik-Austria-Studie: Die Zahl der Menschen, die jedes Jahr wohnungslos wird, entspricht ungefähr der Größenordnung der Bevölkerung der Stadt Gmunden.

Johanna Grillmayer, religion.ORF.at

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