Missbrauchsvertuschung: „Klerikale Kultur“ schuld

Skandale rund um sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche erschüttern die römisch-katholische Kirche weltweit. Die „klerikale Kultur“ und die Strukturen der Kirche seien Gründe für die massive Vertuschung, sagte der Moraltheologe Joseph Selling.

Das Bekanntwerden zahlreicher Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche haben die katholische Kirche in den USA im letzten Jahr nachhaltig erschüttert, so der in Amerika geborene, belgische Theologe im ORF-Interview. Im Bundesstaat Pennsylvania etwa hatte ein lokales Geschworenengericht im August des Vorjahres schockierende Details darüber veröffentlicht, wie sich die Kirche über sieben Jahrzehnte hinweg schützend vor mehr als 300 Kleriker gestellt hat, gegen die Missbrauchsvorwürfe erhoben wurden.

Selling sieht im Gespräch mit dem Ö1-Religionsmagazin „Praxis - Religion und Gesellschaft“ die „klerikale Kultur“ und die Strukturen der Kirche mitverantwortlich für die Vertuschung dieser Fälle. Der 74-Jährige unterrichtet an der katholischen Universität Leuven in Belgien.

Warum konnte so lange beziehungsweise überhaupt vertuscht werden?

Selling: "Das liegt an dieser katholischen Kultur und besonders der klerikalen Kultur innerhalb der katholischen Kirche. Das betrifft jetzt nicht alle religiösen Katholiken, sondern vor allem die Priester. Die sehen einander als natürliche Verbündete an. Bis herauf zum Zweiten Vatikanischen Konzil waren sie alle im Seminar, haben dort alle genau dieselbe Ausbildung durchlaufen, dasselbe pastorale Training erhalten, dieselben Regeln und Verhaltensrichtlinien gelernt.

Sie haben da eine ganz eigene Lebensform praktiziert, eben das was man diese klerikale Kultur nennt, die Papst Franziskus seit seinem Amtsantritt ja immer wieder auch scharf kritisiert hat. In diesem klerikalen Umfeld schaut man aufeinander und man spielt die Verfehlungen von Mitbrüdern auch gerne einmal herunter: ‚So ist er halt ...‘

Und man neigt dazu, sich bei Problemen lieber nicht allzu sehr einzumischen, denn dann gerät man schnell in den Verdacht, diese gegenseitige Brüderlichkeit infrage zu stellen. Diese Mechanismen gibt es jetzt nicht nur unter Priestern, sondern eigentlich in jeder Gruppe, die sich als exklusiv und von anderen getrennt betrachtet. Positiv gesehen, herrscht eine Art Kameradschaft.

Wie in dieser Fernsehserie über amerikanische Soldaten im Zweiten Weltkrieg: ‚A Band of Brothers‘ - ‚Wir waren wie Brüder‘. Man sorgt füreinander, man beschützt einander und man betrachtet Außenstehende, die unbequeme Fragen stellen, eher als Bedrohung denn als Bereicherung. Und ich denke, diese klerikale Kultur, in der alle einander geschützt haben, ist Teil des Problems."

Ein Kirchendach vor einem Wolkenkratzer

APA/AFP/Kamil Krzaczynski

Die römisch-katholische Kirche ist weltweit mit Missbrauchsfällen konfrontiert.

Hat nicht auch die Struktur in der Kirche die Vertuschung gefördert?

Selling: "Es läuft immer alles von oben nach unten. Und so ist der Bischof praktisch verantwortlich für alles. Und wenn nun einer verantwortlich für das Funktionieren einer ganzen Institution ist und plötzlich die Gefahr besteht, dass das alles zerfallen könnte, dann bedeutet das: Du hast versagt. Das führt zu dem natürlichen Impuls, dieses Zerfallen zu verhindern, die Wogen zu glätten.

Doch damit hat man es wirklich übertrieben, indem man viel zu viel einfach ignoriert hat. Und die Probleme wurden immer größer, immer massiver, dass das schließlich ans Tageslicht kommen musste. Das ist dann auch geschehen und wir leben heute mit den Folgen davon. Heute ist es einfach, Schuld zuzuweisen und zu sagen, das hätte man machen müssen und das ... Und all das ist wahr. Aber die Kirche ist nicht die einzige Institution, die so gehandelt hat.

Sendungshinweis

„Praxis - Religion und Gesellschaft“ 30.1.2019, 16.05. Ö1.

Ähnliches ist auch in vielen anderen Institutionen geschehen. Damit kann nichts entschuldigt werden, ganz und gar nicht, aber wir sehen dieselben Mechanismen zum Beispiel auch im Sport: Diese Gemeinschaftskultur, in der die Leute aufeinander schauen und eben auch diese impliziten Abkommen treffen, was getan werden darf und über welche Dinge hinweggesehen werden kann ... und sie vergessen dabei, dass sie auch Teil der übrigen Welt sind."

Können Sie nachvollziehen, wenn angesichts der Missbrauchsfälle immer mehr Menschen die Ansicht vertreten, die katholische Kirche solle lieber nicht allzu vollmundig ihre moralischen Handlungsanleitungen verkünden beziehungsweise deren Einhaltung einfordern, vor allem im Bereich der Sexualmoral?

Selling: "Ich war heute Morgen in einem Priesterseminar zu Gast, und da kam auch die Frage nach der Sexualmoral auf. Ich wurde gefragt: ‚Verstehe ich Sie richtig? Sie vertreten also die Meinung, die katholische Kirche sollte ihre Haltung ändern bei Themen wie Verhütungsmittel und Sterilisation und vielleicht sogar Abtreibung?‘ Ich habe darauf geantwortet: ‚Ich finde, die Kirche sollte diesbezüglich überhaupt nichts machen. Sie sollten aufhören, darüber zu reden und die Leute dazu ermutigen, sich selbst eine Meinung dazu zu bilden und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.‘

Auf der anderen Seite sollte man ihnen genug Informationen liefern, um eben solche verantwortungsvollen Entscheidungen zu treffen. Sie darauf aufmerksam machen, dass man nicht nur die kurzfristigen, sondern auch die langfristigen Auswirkungen von Entscheidungen bedenken sollte. Was heißt das? Nicht nur für mich und meinen Partner, meine Partnerin, sondern auch für die Gesellschaft, den Rest meiner Familie, für die Zukunft meiner Gemeinschaft?"

Sie fordern von der Kirche, mit der Zeit zu gehen. Wie meinen Sie das genau?

„Wir sollten die Menschen lehren, worüber sie sich Gedanken machen sollten, um eben dann selber verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Anstatt ihnen einfach zu sagen: ‚Das ist richtig und das ist falsch.‘ Jeder kann hergehen und das sagen. Wer sagt mir, dass das dann auch die Wahrheit ist? Schauen Sie sich nur an, was die Kirche über Frauen gesagt hat - noch bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Dass sie keine Bildung bräuchten, dass sie schweigen und gehorchen sollten und nach der Pfeife ihres Ehemannes tanzen. Das Zeug haben wir tatsächlich gelehrt. Heute wäre das nicht mehr drin.“

Das Interview führte Alexandra Mantler

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