Khorchide: Abu-Dhabi-Erklärung müssen Schritte folgen

Der wegweisenden interreligiösen Erklärung von Abu Dhabi, wo Papst Franziskus und hochrangige Vertreter des Islam zuletzt an einer Dialogkonferenz teilnahmen, müssen „praktische Schritte“ folgen, so der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide.

Im Blick auf seine eigene Religion regt er an, dass sich der Islam für Religionsfreiheit öffnet und der Koran im historischen Kontext verstanden werden müsse. „Sind wir auch bereit, manche Positionen zu hinterfragen, womöglich zu verwerfen?“, fragte Khorchide in einem Interview (Donnerstag-Ausgaben) der Kooperationsredaktion der österreichischen Kirchenzeitungen. „Das zu thematisieren, war mir ein Anliegen“, berichtete er als einer der Vortragenden bei der Konferenz in den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Mouhanad Khorchide

Frank Rothe

Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide

Papst Franziskus und der oberste sunnitische Großimam, Ahmad Mohammad al-Tajjeb von der Kairoer Al-Ashar-Universität, hatten dort vergangene Woche eine historische „Erklärung der Brüderlichkeit“ verabschiedet.

Religionsunterricht und -freiheit

„Wenn in diesem gemeinsamen Dokument zu lesen ist, dass alle Menschen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, die gleichen Rechte und Pflichten haben sollten, dann müsste das zur Folge haben, dass auch in islamischen Ländern z. B. an öffentlichen Schulen Religionsunterricht angeboten werden soll, auch für Nicht-Muslime; dass in islamischen Ländern Religionsfreiheit gewährt wird und der Bau nicht nur von Moscheen, sondern auch von Kirchen und anderen Gotteshäusern unterstützt werden sollte“, folgerte Khorchide.

Es gebe immer noch ein Heiratsverbot muslimischer Frauen mit nicht-muslimischen Männern, Mekka und Medina dürften nicht von Nicht-Muslimen betreten werden „mit dem Argument, sie seien unrein“. Solche Positionen stehen laut dem in Österreich ausgebildeten Islamwissenschaftler „im völligen Widerspruch zur Rede von Gleichheit der Menschen und gegen Diskriminierung anhand der Religionszugehörigkeit“.

Barmherzigkeit als humaner Wert

Es gehe um Barmherzigkeit als humanen Wert zwischen allen Menschen, betonte Khorchide, der an der deutschen Universität Münster lehrt und dort auch das Zentrum für Islamische Theologie leitet. Sein von dieser Überzeugung getragener Vortrag in Abu Dhabi habe für kontroverse Diskussionen gesorgt. „Aber ich denke, dieses Dokument muss als Arbeitsauftrag an die Theologinnen und Theologen, aber auch an die Politiker verstanden werden.“

Von Franziskus, der als erster Papst eine Reise auf die Arabische Halbinsel angetreten hatte, zeigte sich Khorchide „sehr angetan“. „Man spürt, dass er den Dialog zwischen dem Islam und dem Christentum intensivieren möchte.“ Die Rede des Papstes, aber auch seine Bescheidenheit und Aufrichtigkeit haben Khorchide beeindruckt: „Er benennt Probleme, geht aber gleichzeitig auf die Muslime zu.“

Koranlektüre „weg vom Wortwörtlichen“

Der islamische Theologe sprach sich in dem Kirchenzeitungs-Interview auch für eine neue Rezeption des Koran aus, „weg von einer wortwörtlichen Lesart hin zu einer kontextuellen“. 2018 erschien der erste von 17 Bänden seines Korankommentars, der einem Manko abhelfen solle: „Die beste Koranübersetzung erklärt nicht die historischen Hintergründe. Der Koran steigt mitten in ein Thema ein und man weiß nicht, was gemeint ist, denn ohne den historischen Kontext können wir den Koran nicht verstehen.“

Khorchide: „Wenn der Koran nur so gelesen wird, wie es die Menschen im 7. Jahrhundert getan haben, dann ist er lebensfremd.“ Ihm gehe es darum, Wege aufzuzeigen, „wie man den Koran fortdenken kann, um ihn in unser Leben hier und jetzt einzubinden“. Denn immer weniger Muslime würden den Koran lesen, „weil sie ihre Lebenswirklichkeit darin nicht wiederfinden“.

Gegen „fundamentalistische“ Koran-Lesart

Statt einer „fundamentalistischen Lesart“ des Koran bemühe er sich um eine „aufgeklärte, menschenfreundliche“, erklärte Khorchide. „Wir müssen uns fragen, was heißt Religion im Alltag, was heißt Religion in der Kommunikation mit Menschen, wie trete ich auf in der Gesellschaft, wie kann ich Liebe, Barmherzigkeit, Aufrichtigkeit bezeugen durch meine Interaktion mit Menschen in meinem Alltag.“

Er selbst habe diese gelebte Frömmigkeit von seiner Oma kennengelernt, die in Beirut vor der Moschee, neben der auch eine Kirche stand, Brot und Käse an Arme verteilte - unterschiedslos an Muslime und Christen, wie Khorchide erzählte. Seine aus Palästina stammende Familie sei 1948 in den Libanon geflüchtet, die Eltern später nach Riad in Saudi-Arabien gezogen, „wo ich aufwuchs“.

Die Sommerferien habe er bei seiner Großmutter in Beirut verbracht und die Unterschiede zwischen der libanesischen und der saudischen Gesellschaft hautnah erlebt. In Saudi-Arabien durfte er als Ausländer nicht studieren. „In Wien war das später für mich möglich“, so Khorchide: „Ein nicht-islamisches Land hat mir eine Heimat geboten, mich aufgefangen, mich gleich behandelt. Auch das hat mich geprägt.“

religion.ORF.at/KAP

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