Kritik an Benedikt-Text: „Eines Ratzinger nicht würdig“

Mit einhelliger, teils scharfer Kritik am jüngsten Benedikt-XVI.-Text zum Thema Missbrauch haben sich Theologen aus Österreich und Deutschland zu Wort gemeldet.

Der Text sei „eine vertane Chance“ und „eines Ratzinger nicht würdig“, betonte etwa der Wiener Pastoraltheologe und Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Johann Pock, gegenüber Kathpress. Joseph Ratzinger habe nicht nur eine Chance ungenutzt gelassen, seine eigene Rolle und Position in den 1980er-Jahren zum Missbrauchsskandal zu erklären, er habe vielmehr aus offenbar persönlichen Erschütterungen und Animositäten heraus und mit einem lokal verengten Blick der Kirche in der aktuellen Debatte „einen Bärendienst erwiesen“, so Pock.

Reaktion auf Kinderschutzgipfel

Am Donnerstag war ein Text des emeritierten Papstes Benedikt XVI. publik geworden, den er ursprünglich für das deutsche „Klerusblatt“ verfasst hatte und der dann über das private katholische Mediennetzwerk CNA/EWTN verbreitet wurde. Der Text versteht sich als Reflexion und Reaktion auf den jüngsten Kinderschutzgipfel im Vatikan und benennt als zentrale Ursache für den Missbrauch einen Glaubensabbruch in den westlichen Gesellschaften seit den 1960er-Jahren und eine Abkehr von der katholischen Morallehre.

Papst Benedikt XVI. winkend 2012

Reuters/Giampiero Sposito

Scharfe Kritik aus Theologenkreisen an Benedikt XVI.

Das habe auch auf die Priester und die Priesterausbildung folgenschwer gewirkt. Ein Ausweg in der aktuellen Krisensituation könne nicht in der Veränderung der Kirche bestehen, sondern in der Umkehr jedes einzelnen zu einem tieferen Glauben, so Benedikt XVI. in seinem Text.

Pock: „Verdrehung von Ursache und Wirkung“

In seiner prinzipiellen Herangehensweise sei der Text „ein fast schon klassischer Ratzinger“, so Pock: „Die Moderne und auch die moderne Freiheitsgeschichte werden einzig unter dem Vorzeichen des Rückschritts und des moralischen Verfalls betrachtet - Stichwort ‚Relativismus‘“. Daher biete der Text diesbezüglich auch wenig Neues; die Anwendung dieser Logik auf das Thema Missbrauch mache zugleich „überdeutlich, dass dies zu einer Verdrehung von Ursache und Wirkung und zu einer Opfer-Täter-Umkehr führt“.

Die Opfer kämen bei Benedikt so ebenso wenig in den Blick wie jene aktuell diskutierten kirchlichen Strukturen, die die Vertuschung des Missbrauchs gerade befördert hätten, so Pock. Selbst wo Benedikt im Text einräumt, dass es Sünde und Böses in der Kirche gibt, bleibe er im Vagen: „Die Sprache ist verräterisch: Sie ist im Neutrum gehalten und verbleibt im nebulösen Allgemeinen.“

Kopfschütteln verursacht bei Pock auch jene Stelle, an der Benedikt XVI. ein Opfer - eine mit sexueller Gewalt konfrontierte Ministrantin - zur Wort kommen lässt: Der Fokus des emeritierten Papstes liege auch hier nicht auf dem Schicksal der Frau und dem, was ihr widerfahren ist, sondern auf dem Verlust der Achtung vor der Eucharistie. „Dies ist kein Beitrag zum Lösen der Missbrauchskrise, sondern ein weiteres Symptom: eine Spiritualisierung von Fakten und Sprache“, so Pock.

Weitere Theologen-Kritik aus Deutschland

Neben Pock haben sich auch andere deutschsprachige Theologen mit teils scharfen Kritiken zu Wort gemeldet. So erklärte der Freiburger katholische Moraltheologe Magnus Striet in einem Beitrag für das Internetportal katholisch.de: „Benedikt XVI. baut einen Popanz auf, um einen Schuldigen dafür ausmachen zu können, warum Missbrauch stattfand - und systematisch vertuscht wurde.“

Es sei „absurd“, wenn der emeritierte Papst die 68er-Bewegung verantwortlich mache. Dann müsse er erst einmal erklären, warum es schon vor dieser Zeit zu Missbrauch gekommen sei und warum es auch massiven Missbrauch in Ländern gegeben habe, die erst in den 80er-Jahren demokratisiert worden seien.

„Furor gegen Neuzeit und Moderne“

Das gesamte Werk von Benedikt XVI./Joseph Ratzinger sei „durchzogen von einem Furor gegen Neuzeit und Moderne, die er aber nur als Verfallsgeschichte wahrnimmt“, schreibt Striet. Er sieht eine Mitverantwortung des früheren Papstes für die Vertuschung von Missbrauch.

„Wer hat eigentlich die Bischöfe ernannt, die jetzt unter heftigen Vertuschungsvorwürfen stehen? Oder die selbst zu Tätern wurden?“ Zwar habe die Glaubenskongregation striktere Maßnahmen ergriffen, „aber ging es hier um die Betroffenen? Oder doch mehr um das Priesteramt?“ Striet appellierte an Ratzinger, sich für eine unabhängige Untersuchung der in der Glaubenskongregation seit dem Jahr 2000 gesammelten Unterlagen einzusetzen.

„Alte, lang überwundene Kämpfe“

Der Präsident des Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, gab Benedikt XVI. insofern Recht, als eine „Gottvergessenheit“ ein großes Problem der heutigen Zeit sei. Zugleich merkte Sternberg kritisch an, dass Benedikt zum Thema Missbrauch in erster Linie „die alten, lang überwundenen Kämpfe“ einfielen.

Im Gegensatz zum früheren Papst erklärte Sternberg, die kirchliche Sexualmoral habe sich seit den 60er Jahren so weit von der Lebenswirklichkeit der Menschen entfernt, dass sie keine Akzeptanz mehr gefunden habe. Verantwortlich für den Zusammenbruch der katholischen Morallehre sei eine Hierarchie gewesen, die „noch glaubte, restriktive Vorschriften für das Leben von längst selbstbestimmten Menschen machen zu können“, so Sternberg.

religion.ORF.at/KAP

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