Sloterdijk zu Pfingsten: Bedrohungen überschätzt

Der deutsche Philosoph und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk sieht die Welt nicht so schlecht, wie sie oft dargestellt wird. Bedrohungen würden überschätzt, sagte er beim heurigen „Pfingstdialog“ im kirchlichen Bildungszentrum Schloss Seggau in der Steiermark.

Sloterdijk, von der Politikkultur-Zeitschrift „Cicero“ zum wichtigsten deutschsprachigen Intellektuellen gekürter Philosoph, sieht den Menschen - zumindest den in mitteleuropäischen Breiten - heute in den „besten aller möglichen Zeiten“. Bedrohungsszenarien würden dennoch überschätzt und potenzielle Risiken mit real existierenden Gefahren verwechselt, erklärte Sloterdijk am Donnerstagabend beim diesjährigen „Pfingstdialog“ im Schloss Seggau.

Die Welt werde für schlechter gehalten als sie ist, zum Beispiel die Bedrohung durch Migration werde überbetont in einem Europa, dessen „Grundtrauma“ laute: „Wo es einst Imperien gab, sind nur noch Länder“, so Sloterdijk in einem assoziativ geführten Interview mit „Presse“-Chefredakteur Rainer Nowak.

Peter Sloterdijk

APA/dpa/Georg Wendt

Der Philosoph Peter Sloterdijk findet Bedrohungsszenarien wie etwa

Thema des Gesprächs waren Fragen rund um Identität, Zugehörigkeit und Zusammenhalt im Kontext des „Pfingstdialog“-Fokus auf Digitalisierung und ihre Folgen („Das digitale Europa“). Sloterdijk hatte sich in seinen jüngsten Veröffentlichungen wie „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ (2014), „Was geschah im 20. Jahrhundert? Unterwegs zu einer Kritik der extremistischen Vernunft“ (2016) oder „Nach Gott: Glaubens- und Unglaubensversuche“ (2017) vermehrt kulturdiagnostischen Fragen zugewandt, die Entwicklungen in der Moderne und Postmoderne kritisch beleuchteten.

„Infizierbares“ Gehirn: Verantwortung für Medien

Den Medien wies Sloterdijk dazu in Seggauberg eine unrühmliche Rolle zu, die darin bestehe, Gefahren zu überzeichnen. Ein Hai gelte z.B. als ungleich gefährlicher als Stechmücken, obwohl letztere alljährlich zigfach mehr Todesopfer fordern als Haie.

Zu den traditionellen „apokalyptischen Reitern“ wie Hunger oder Krieg müssten heute auch die geradezu „epidemiefähigen“ sozialen Medien hinzugezählt werden, die bei den Usern „infektiöse Energien“ verbreiteten. Nicht nur Mikroben, auch Nachrichten sind nach den Wortgen des Philosophen ansteckend, und das Gehirn sei der „infizierbarste“ Körperteil, und täglich gebe es zahllose medial verbreitete „Erregungsvorschläge“. Sloterdijk zitierte den großen österreichischen Medienkritiker Karl Kraus, der in der Zwischenkriegszeit über das gesamte Presse-System der Neuzeit eine dunkle Metapher geprägt habe: „die schwarze Pest“.

Antisemitismus: „Ich glaube diese Bedrohungen nicht“

Für Irritationen und Widerspruch im Publikum sorgte der Erfolgsautor mit der Anmerkung, auch das derzeit in Deutschland beklagte Ansteigen des Antisemitismus sei einem Alarmismus geschuldet, durch die Beschwörung einer Gefahr werde diese erst geschürt. Wenn etwa behauptet wird, 30 Prozent der Deutschen seien judenfeindlich, habe dies den Charakter einer selbst erfüllenden Prophezeiung, so Sloterdijk.

Ähnlich wie beim Thema Selbstmord wäre hier mediale Zurückhaltung angebracht. „Ich glaube an diese ganzen Bedrohungen nicht“, sagte der Intellektuelle auch im Blick auf Antisemitismus. Jüdisches Leben habe sich nach dem Weltkrieg in Deutschland und Österreich weitgehend ungestört entfaltet, was laut Sloterdijk auch mit der Abkehr der Kirchen vom christlichen Antijudaismus zu tun hatte.

Moraltheologe: „Digitale Ethik“ nötig

Der deutsche Moraltheologe Eberhard Schockenhoff sagte im Rahmen des „Pfingstialogs“, Künstliche Intelligenz verlange nach einer „digitalen Ethik“, die den Besonderheiten der voranschreitenden Digitalisierung gerecht wird. Das hat der Freiburger im Rahmen des „Pfingstdialoges“ unterstrichen.

Als Kirchenvertreter, der dem deutschen Ethikrat angehört, wolle er nicht Vorurteile gegen die „ohnehin alles verbietende“ Kirche bedienen und sofort von Grenzen reden, die im Zusammenhang mit der Digitalisierung zu ziehen seien, sondern auch auf damit verbundene Chancen, sagte Schockenhoff am Donnerstag im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema „künstliche Intelligenz“. Immerhin habe ein Kirchenmann - der Jesuit Teilhard de Chardin - die heutige digitale Welt mit seinen Überlegungen über die „Noosphäre“ quasi vorweggenommen und damit große Erwartungen verbunden.

Technologien zweischneidig

Zugleich erfordere die digitale Weise des Kommunizierens auch eine neue Verantwortung, verwies der Theologe auf die im Internet oft wegfallenden Hemmschwellen - Stichwort „Hass im Netz“. Die Ambivalenz intelligenter Maschinen illustrierte der viel mit Friedensethik befasste Schockenhoff mit Drohnen, die von Streitkräften eingesetzt werden: Sie könnten dazu dienen, die eigenen Soldaten zu schützen und jenseits menschlicher Rachebedürfnisse den völkerrechtlich anerkannten Schutz sichern.

Sie könnten aber auch zur Zielauswahl vor Angriffen dienen; sollte diese Zielauswahl selbstgesteuert ohne menschliche Beteiligung erfolgen und zur Tötung von Zivilisten beitragen, wäre für den Theologen eindeutig eine „Grenze überschritten“.

Ethik richtet sich an Menschen

Dazu hielt Schockenhoff fest, eine „digitale Ethik“ richte sich immer an Menschen und nicht an Maschinen. Eine Technologie sei ethisch neutral und dazugehörige Maschinen nicht „böse“. Freilich würden neue technische Möglichkeiten auch neue ethische Fragen aufwerfen. Der Moraltheologe nannte selbstfahrende Autos als Beispiel: Sollen diese so programmiert sein, dass sie die Insassen bei Unfällen mehr schützen als Beteiligte außerhalb des Autos? In Umfragen halte eine Mehrheit das für nicht legitim; eine ähnliche Mehrheit würde so ein Auto jedoch bevorzugen, wenn ein Kauf ansteht.

Mit seinen Mitdiskutierenden tauschte sich Schockenhoff auch über die Frage aus, inwieweit Menschenrechte wie der Persönlichkeitsschutz als globale Standards auch von Nationen wie China und dessen Gesichtserkennungsprogramm für Kontrollzwecke eingefordert werden müssen. Der steirische Landesrat Christopher Drexler etwa bekannte sich zur „Null-Toleranz“ gegenüber Relativierungen anerkannter ethischer Messlatten und forderte hier politische Kontrolle ein.

Forscherin: Relevante Entwicklungen fördern

Charlotte Stix, die an der Cambridge University über Artificial Intelligence forscht, erwähnte dazu die Bereitschaft vieler Bedürftiger, auf ein Amazon-Angebot einzugehen, das für ihren Körper-Scan 25 US-Dollar bietet. Die IT-Expertin kritisierte, dass die von jungen Männern dominierte angewandte Informatik zwar zu Apps wie Tinder, Uber oder Pizzabestellungen per Mausklick führten, die deren Bedürfnissen entsprächen. Es müsste aber viel mehr Gehirnschmalz und Geld für Technologien aufgewendet werden, die adäquat auf die großen Herausforderungen reagierten, vor denen die Welt heute stehe, so Stix unter dem Beifall des Publikums.

Eine von acht „Insiemegruppen“ beim Pfingstdialog beschäftigte sich mit dem Thema „Vertrauen in Technologie“. Vertrauen sei erforderlich, um eine unübersichtliche in eine übersichtliche Situation zu verwandeln, erklärte der Grazer Sozialethiker und Theologe Leopold Neuhold als einer der Teilnehmer. Dafür erforderlich technische Hilfsmittel dürften freilich nicht zum Selbstzweck werden, nannte der Fußballexperte Torlinien- und Videoassistenz als Beispiele aus dem Sport. Technik müsse Ergänzung, nicht Substitution sein, und Grenzen ziehendes Recht und Ethik sollten einander ersetzen, sagte Neuhold.

Zusammenspiel von allen nötig

Wolfgang Burtscher, in der Europäischen Kommission für Forschung und technische Entwicklung zuständig, berichtete von der Schwierigkeit bei Entscheidungsfindungen zu Fragen wie: Wer soll auf Technik-Innovationen reagieren? Und wann soll das geschehen? Einig waren sich die Diskutierenden darin, dass dazu ein Zusammenspiel von Politik, Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft erforderlich ist; so wie es laut Burtscher rund um die Abtreibungsdebatte in Irland Bürgerräte gab, die eine breite Debatte über eine anstehende Problemstellung gefördert habe.

Leopold Neuhold sagte dazu, es fehle heute eine „Agora“ als Ort der Vermittlung wie im antiken Griechenland, die der Zivilgesellschaft zwischen der Hausgemeinschaft „Oikos“ und der Ratsversammlung „Ekklesia“ Anteilnahme und Diskussion ermögliche.

religion.ORF.at/KAP

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