Abrechnung mit dem Zölibat

Es ist eines der heißesten Eisen der römisch-katholischen Kirche: Der Zölibat gehört zu den umstrittensten ihrer Einrichtungen. Der renommierte Kirchenhistoriker Hubert Wolf hat dem Thema ein Buch in „16 Thesen“ gewidmet - eine Abrechnung.

In 16 Kapiteln beleuchtet Wolf, der an der deutschen Universität Münster Geschichte lehrt, Gründe für die Einführung der zölibatären Lebensweise katholischer Geistlicher seit dem Mittelalter sowie Auswirkungen bis zum heutigen Tag. Der Zeitpunkt für die Neuerscheinung ist gut gewählt, denn das Thema Pflichtzölibat wird bei der Amazonien-Synode im Herbst prominent diskutiert werden.

Das weiß auch der Autor von „Zölibat. 16 Thesen“: Gleich im Vorwort schildert er eine Begegnung zwischen dem österreichischen emeritierten Bischof der brasilianischen Diözese Xingu, Erwin Kräutler, und Papst Franziskus im Jahr 2014: 90 Prozent der Gemeinden seiner Diözese könnten am Sonntag nicht regelmäßig Eucharistie feiern, 70 Prozent sogar nur dreimal im Jahr, weil es so gut wie keine Priester gebe, habe Kräutler dem Papst berichtet.

„Das Tabu ist gefallen“

Die lateinamerikanischen Bischöfe des Amazonien-Gebietes hätten „die Aufforderung von Papst Franziskus zu mutigen Vorschlägen aufgegriffen“. Die Bischöfe sollen zumindest die Weihe verheirateter Männer zu Priestern vorgeschlagen haben. Ob auch die Zulassung von Frauen zu kirchlichen Ämtern diskutiert werden wird, sei dahingestellt, aber: „Das Tabu ist gefallen.“

Zölibat

Der Zölibat (lat. caelibatus: Ehelosigkeit) ist die aus religiösen Gründen gewählte Ehelosigkeit. Seit 1139 ist er Voraussetzung für die Priesterweihe in der lateinischen Kirche.

Doch auch „Priestermangel und Missbrauchsvorwürfe“ würden den Vatikan zwingen, über den Zölibat zu reden. Zum einen vermute man, „dass seit den 1960er Jahren weltweit etwa zwanzig Prozent der Priester ihr Amt wegen des Zölibats aufgegeben haben“. Zum anderen skizziert Wolf, der hier fraglos für die Abschaffung des Pflichtzölibats eintritt, welche Auswirkungen diese „unnatürliche“ Lebensweise haben kann - und warum es den Zölibat gar nicht geben müsste und er sogar leicht abgeschafft werden könnte. Denn der Zölibat ist kein kirchliches Dogma, sondern ein Kirchengesetz, noch dazu mit Ausnahmen.

Die vorgeschriebene Ehelosigkeit von Priestern der lateinischen (Westkirche) ist auch alles andere als unwidersprochen, wie Wolf ausführt: „Auf nahezu allen Nationalsynoden nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde die Weihe verheirateter Männer zu Priestern gefordert“, erinnert er.

Der heilige Petrus, Enkaustik-Ikone aus dem 6. Jahrhundert, Katharinenkloster (Sinai)

Public Domain

Der heilige Petrus soll verheiratet gewesen sein (Ikone aus dem 6. Jahrhundert, Katharinenkloster, Sinai)

Petrus’ Schwiegermutter

Der Zölibat lasse sich biblisch nicht begründen, „denn im Neuen Testament gibt es selbstverständlich verheiratete Bischöfe, Priester und Diakone“, führt Wolf aus. Für die frühesten Anfänge dient dem Historiker „die Schwiegermutter des Petrus“ quasi als lebender Beweis für eine Ehe, die der „erste Bischof von Rom“ geführt haben muss. Auch in der christlichen Frühkirche haben verheiratete und ehelose Priester nebeneinander gelebt. Die Neigung zur Enthaltsamkeit - auch in der Ehe - sei allerdings schon vorhanden gewesen. Dieser Trend habe sich im 4. Jahrhundert noch verstärkt.

Klare Regeln und eine Einheitlichkeit bezüglich Priester und Ehe bzw. Enthaltsamkeit gab es über Jahrhunderte hinweg nicht, wie Wolf schreibt: „Kanones (Dokumente, Anm.), die generell verlangen, dass verheiratete Geistliche von ihren Frauen getrennt leben, begegnen erst im elften Jahrhundert.“

Davor scheint es mehrere unterschiedliche Lösungen gegeben zu haben, etwa verheiratete Priester, die nur während einiger Feiertage enthaltsam lebten, wie Historiker heute vermuten. Sein vorläufiges Ende fand der Diskurs über die Keuschheit geweihter Männer im Zweiten Laterankonzil 1139, das den Zölibat als Voraussetzung für die Priesterweihe festlegte.

Ökonomische Hintergründe

Interessant sei, „dass eheliche Sexualität durch die Gleichsetzung mit Ausschweifung, was ein sündhaftes Handeln unterstellt, eindeutig abgewertet wurde“ - und somit die beteiligten Frauen. Wolf sieht auch einen ganz klaren ökonomischen Hintergrund der vorgeschriebenen Ehelosigkeit von Priestern: Es gab zumindest offiziell keine Familien zu versorgen und mit einem Erbe zu bedenken, das andernfalls der Kirche entgangen wäre.

Porträt von Papst Alexander VI. von Cristofano dell'Altissimo (1525–1605)

Public Domain/Wikipedia

Papst Alexander VI. soll sich „geradezu rührend“ um seine Kinder gekümmert haben (Porträt von Cristofano dell’Altissimo, 1525–1605)

Natürlich geschah das inoffiziell trotzdem - Wolf nennt den Borgia-Papst Alexander VI. als Extrembeispiel, der sich „geradezu rührend“ um seine Kinder gekümmert habe. Von richtigen „Priesterdynastien“ schreibt der Autor von „16 Thesen“. Nepotismus und die Vererbbarkeit von Pfründen existierten also in vielen Gegenden weiterhin, nur eben inoffiziell. So ergab eine Auswertung der Visitationsprotokolle des deutschen Fürstbistums Münster aus den Jahren 1571 und 1573, „dass knapp sechzig Prozent der Pfarrer eheähnliche Verhältnisse unterhielten und nicht selten mehrere Kinder hatten“.

„Ain Köchin, siben Kinder“

Ein nicht ungewöhnlicher Bericht über einen anderen Pfarrer des 16. Jahrhunderts lautete: „Pfarrer helt sich aines briesterlichen wandels. Hat ain Köchin, siben Kinder.“ Der Pflichtzölibat scheint, wie der Kirchenhistoriker nachweist, teilweise geradezu eine Fiktion gewesen zu sein.

Neben den praktischen Argumenten für die priesterliche Ehelosigkeit zählt der Kirchenhistoriker auch historische und theologische auf. So habe der Zölibat auch der Abgrenzung der katholischen Kirche gegenüber den Protestanten gedient. Schließlich war Martin Luther geradezu demonstrativ verheiratet, noch dazu mit einer ehemaligen Nonne. Die Ehe wurde für evangelische Pfarrer geradezu zur Pflicht.

Menschenrecht auf Sexualität

Die Aufklärung brachte neue Argumente in die Debatte: Auch seitens der katholischen Aufklärer wurden Forderungen nach der Abschaffung des Zölibats laut. Im Mittelpunkt standen nun das Problem der „unnatürlichen Lebensweise“ und auch die Menschenrechte des Priesters selbst: Niemandem sollte das Recht auf Sexualität und Ehe vorenthalten werden.

Buchcover von Hubert Wolf: Zölibat

C H Beck Verlag

Buchhinweis

Hubert Wolf: Zölibat. 16 Thesen. C. H. Beck, 190 Seiten, broschiert, 15,40 Euro.

Dennoch hätten die Päpste im 19. Jahrhundert den Zölibat „zum unüberbietbaren positiven Identitätsmarker“ hochstilisiert. Parallel dazu habe es Tendenzen gegeben, das zölibatär gelebte Priesteramt spirituell zu überhöhen, so Wolf - bis hin zur „Quasi-Vergottung des Priesters“ nach dem Vorbild eines ehelosen Jesus Christus und seines Bundes mit der Kirche. Zwar habe durch das Zweite Vatikanum „die Kritik am Zölibatsgesetz noch einmal neuen Aufschwung“ erhalten, dennoch konnten Bewegungen wie Wir sind Kirche daran nichts ändern, resümiert der Autor.

Schon jetzt viele Ausnahmen

Dass es ganz klar auch ohne Zölibat geht, beweisen für Wolf die vielen „Ausnahmen“, namentlich evangelische und anglikanische Priester, die nach Übertritt zum Katholizismus ihre Ehefrau „behalten“ dürfen, aber auch die orthodoxen Geistlichen. Den nicht enden wollenden Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche und einem vermuteten Zusammenhang mit dem Pflichtzölibat ist ein ganzer Abschnitt des Buches gewidmet.

Neben dem schon erwähnten Recht der Gläubigen auf regelmäßige Gottesdienste durch einen Priester, das durch den Priestermangel nicht mehr erfüllt werden kann, wird auch ein weniger beachteter Aspekt hervorgehoben, „die Stabilisierung des hierarchischen Systems der katholischen Kirche“ durch den Zölibat. Denn schließlich lasse sich „ein Mann mit Frau und Kindern von der kirchlichen Obrigkeit nicht einfach (...) alle Jahre wieder von einem zu einem anderen Ort“ versetzen.

„Römisch-päpstliche Hierarchie zerstört“

Oder wie es Kardinalstaatssekretär Lazzaro Opizio Pallavicini 1783 ausdrückte: „Wenn man den Geistlichen die Ehe gestattet, so ist die römisch-päpstliche Hierarchie zerstört, das Ansehen und die Hoheit des römischen Bischofs verloren; denn verheiratete Geistliche werden durch das Band mit Weibern und Kindern an den Staat gefesselt, hören auf, Anhänger des römischen Stuhles zu sein.“

„Zölibat. 16 Thesen“ ist eine kompakte (das broschierte Buch hat nur 190 Seiten) Zusammenfassung von Ist-Zustand und Ursprüngen der Institution, wie wir sie kennen. Aus seiner Überzeugung, dass der Pflichtzölibat abgeschafft werden sollte, macht der Kirchenhistoriker kein Hehl - wie auch immer man selbst dazu stehen mag, für am Thema Interessierte ist Wolfs Buch ein Muss.

Johanna Grillmayer, religion.ORF.at

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