Studie: Soziale Dimension von Religion nimmt zu

„Die soziale Dimension der Religion gewinnt an Bedeutung“: Auf diese Entwicklung macht der neue Band „Quo vadis, Österreich?“ aufmerksam, den der an der Uni Wien angesiedelte Forschungsverbund Interdisziplinäre Werteforschung jetzt vorgelegt hat.

Er versammelt die seit 1990 in Österreich im Zehnjahresrhythmus durchgeführten Europäischen Wertestudien und beleuchtet Bereiche wie Arbeitswelt, Familie und Beziehungen, Politik - und eben Religion: Sie wird von der Pastoraltheologin Regina Polak und der Soziologin Lena Seewann in einem ausführlichen Kapitel im Spannungsfeld von Säkularisierung und Pluralisierung behandelt.

Dass Religion eine stärkere soziale Komponente gewinnt, mag angesichts des Rückgangs religiöser Praxis trotz recht stabiler Glaubensüberzeugungen überraschend erscheinen. „Am markantesten deutlich“ werde diese anhand der Europäischen Wertestudie (European Values Study, EVS) 2018 diagnostizierten Entwicklung laut den Autorinnen Polak und Seewann an der steigenden aktiven Mitgliedschaft in religiösen und kirchlichen Organisationen.

Anteil Engagierter gestiegen

Der Anteil von hier Engagierten habe „unerwarteterweise 2018 deutlich zugenommen und liegt unter katholischen und muslimischen Gläubigen bei etwas über 40 Prozent“. Das sei geradezu ein Gegentrend zu anderen Bereichen wie Parteizugehörigkeit, Gewerkschaften, Umwelt- und Tierschutz. Unter Katholikinnen und Katholiken hat sich der Einsatz in kirchlichen Organisationen im Vergleich zur EVS 2008 verdreifacht - von 14 auf 45 Prozent, geht aus einer Tabelle hervor.

Pastoraltheoplogin Regina Polak

kathbild.at/Franz Josef Rupprecht

Pastoraltheologin Regina Polak: Mehr aktive Mitgliedschaft in religiösen und kirchlichen Organisationen

Dieser Anstieg erscheint Polak und Seewann, wie sie schreiben, „durchaus plausibel“, wenn man z. B. die Daten christlicher Hilfsorganisationen wie Caritas oder Diakonie heranziehe. Die Caritas nannte in ihrem Wirkungsbericht 2010 noch 27.000 freiwillig Engagierte, 20.000 davon in der Pfarrcaritas eingebunden, 2017 sei die Gruppe der Freiwilligen auf 50.000 angestiegen (30.000 in der Pfarrcaritas).

Anstieg freiwilliger Helfer

Auch die Diakonie verzeichne laut Jahresbericht 2017 einen Anstieg freiwilliger Helferinnen und Helfer, insbesondere im Bereich der Flüchtlingshilfe. Ein Erklärungsversuch der beiden Autorinnen: Der Höhepunkt der Individualisierung von Religion, „den wir bereits 2000 konstatiert hatten“, könnte mittlerweile überschritten sein, „und Menschen wieder verstärkt nach sozialem Anschluss oder auf der Suche nach Sinn nach sozialem Engagement suchen, wofür die Kirchen nach wie vor viele Andockmöglichkeiten bieten“.

Flüchtlinge und freiwillige Helferinnen am Mittwoch, 9. September 2015, anl. der Aktion "Kochen für Flüchtlinge - Essen mit Freunden" in Traiskirchen

APA/Herbert Pfarrhofer

Flüchtlinge und freiwillige Helferinnen 2015 in Traiskirchen

Ob sich dieses verstärkte soziale Engagement mit intensivierter christlicher Religiosität verbindet oder gar nachhaltig ist, „ist allerdings zu bezweifeln“. In „Quo vadis, Österreich?“ ist die Rede von auch aus früheren Studien bekannten „Verschiebungen im religiösen Feld“, wie eine zunehmende Auffächerung religiös-konfessioneller Zugehörigkeiten bei gleichzeitiger „Entkoppelung“ von „Zugehörigkeit und religiöser Praxis einerseits und Weltanschauung und Selbstverständnis andererseits“.

Weniger Christen, mehr Konfessionslose

Einige markante Daten dazu: Der Bevölkerungsanteil der Katholiken in Österreich sank von 80 Prozent im Jahr 1999 auf 73 (2008) und zuletzt 63 Prozent (2018); jener der Orthodoxen (zuletzt drei Prozent) und Muslime (zuletzt sieben Prozent) stieg ebenso wie jener der Konfessionslosen (zwölf - 17 - 21 Prozent). Dazu schränken die Autorinnen freilich ein: Seit 2001 werde die Religionszugehörigkeit nicht mehr amtlich erhoben, exakte Zahlen seien somit nicht verfügbar.

Kaum veränderte sich im vergangenen Jahrzehnt die Selbsteinschätzung der Österreicher als „religiöse Person“: 63 Prozent bezeichnen sich selbst als solche - 71 Prozent der Katholiken, am häufigsten die Muslime mit 80 Prozent. Auch unter den Konfessionslosen sah sich 2018 ein Drittel als religiös, halb so viele als überzeugte Atheisten. Deutlich voran sind die Muslime und Musliminnen bei der Frage nach der Wichtigkeit von Gott im eigenen Leben: 73 Prozent sagen hier „sehr wichtig“, bei den Katholiken sind es nur halb so viele, immerhin 13 Prozent bei den Konfessionslosen.

Der Gottesdienstbesuch („einmal im Monat oder öfter“) sank unter den Katholiken zwischen 1999 und 2008 von 49 auf 36 Prozent, 2018 betrug dieser Wert 37 Prozent. Gebet außerhalb des Gottesdienstes ist für 38 Prozent der Katholiken Praxis - eine deutliche Abnahme gegenüber 1990 (61 Prozent). Auch in diesen beiden Bereichen religiöser Praxis an der Spitze: die Muslime. In der Zusammenfassung ist die Rede von einer „konstanten Erosion kirchlich formatierter Religiosität“.

Vertrauen in Kirche wieder gestiegen

Im vergangenen Jahrzehnt wieder gestiegen ist dagegen das Vertrauen in die Kirche: 49 Prozent der Katholiken nannte hier „ziemlich/sehr viel“, 2008 waren es noch 43 Prozent. Verdoppelt von drei auf sechs Prozent hat sich in diesem Zeitraum auch das Kirchenvertrauen der Konfessionslosen.

Eine Trau in Tracht hält ein Gebetsbuch

APA/dpa/Sebastian Kahnert

Beim Gottglauben sieht die Studie „sehr langsam ablaufende Veränderungsprozesse“

Beim Gottglauben zeigen sich laut Polak und Seewann „eher geringfügige und nur sehr langsam ablaufende Veränderungsprozesse“; 1990 bekannten sich 76 Prozent der Österreicher dazu, 2008 und 2018 taten das 73 Prozent. Allerdings stieg der Anteil derjenigen, die dezidiert den Gottesglauben ablehnen, auf Kosten der Unentschiedenen kontinuierlich an und erreichte 2018 mit 21 Prozent einen Höchstwert.

In Fragen nach Reinkarnation, Himmel und Hölle sowie Leben nach dem Tod gab es laut dem neuen Buch über die Zeit nur geringe Veränderungen, bei spezifisch christlichen Glaubensinhalten (z. B. „Es gibt einen Gott, der sich in Jesus zu erkennen gegeben hat“ oder "Auferstehung von Jesus Christus gibt meinem Tod einen Sinn) sind leicht zurückgehende Zustimmungsraten festzustellen.

Anstieg eher säkularer Vorstellungen

Stärker bejaht werden demgegenüber „stärker abstrakte Vorstellungen“ wie die Aussage, dass das Leben „letztlich durch die Gesetze der Natur bestimmt“ werde, dass es „so etwas wie eine höhere Macht (ein höheres Wesen)“ gebe oder dass der Tod „ein Übergang zu einer anderen Existenz“ sei.

Die höchste Zustimmung erfährt die Aussage, dass „das Leben seinen Sinn in sich selbst“ trägt. Das deutet für Polak und Seewann auf einen Anstieg eher säkularer und immanenzbezogener Vorstellungen hin, „die stärker an einer naturwissenschaftlichen Weltsicht orientiert sind und letztlich auch die Eigenverantwortung des Individuums bspw. für eine Sinngebung des eigenen Lebens deutlicher hervortreten lassen“.

„Zukunftsperspektive“ Transzendenzschwund?

Polak und Seewann betonen zu diesen Daten die „religiöse Heterogenität innerhalb der Religionen“, sie orten „Konfliktlinien entlang von Generationen und Geschlecht“. Soll heißen: Frauen und Ältere sind tendenziell offener für Religion als Männer und Jüngere. Unter dem Stichwort „Zukunftsperspektiven“ merken die beiden Autorinnen an, es gebe trotz eines konstant hohen Niveaus des Glaubens an Gott durchaus „Signale für einen schleichenden Verlust spezifisch christlicher Glaubensüberzeugungen sowie der Dimension des Transzendenten - und zwar auch unter jenen, die sich als religiös verstehen“.

Die Konzentration auf die immanente Dimension von Religion - eine Folge der Säkularisierung - könne aus der Sicht von Religionen zu einer zunehmend eingeschränkteren Reichweite des Lebenshorizontes führen und dazu, „dass viele Menschen mit dem Transzendenzbezug religiöser Aussagen immer weniger anfangen können“. Religion als Deutungsmodell für das gesamte Leben und als im Alltag praktizierte Lebensform könnte an Bedeutung verlieren, mutmaßen Polak und Seewann.

Religionsgemeinschaften stärker unter Druck

Nach der Generation der katholisch geprägten „Babyboomer“ werde das religiöse Feld mit den nachfolgenden Generationen vermutlich in Bewegung geraten. Mit der Konsequenz: „Religionsgemeinschaften könnten in den kommenden Jahren stärker unter Druck geraten, die eigene Legitimität und Rationalität begründen zu müssen.“

Der Band „Quo vadis, Österreich? Wertewandel zwischen 1990 und 2018“ wurde von Julian Aichholzer, Christian Friesl, Sanja Hajdinjak, Sylvia Kritzinger herausgegeben und erschien im Wiener Czernin Verlag. Präsentiert wird er am Donnerstagabend bei einer Diskussionsveranstaltung des „Forschungsverbundes Interdisziplinäre Werteforschung“, an dem maßgeblich auch das Institut für Praktische Theologie an der Uni Wien beteiligt ist.

religion.ORF.at/KAP

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