Zulehner: Kirchen müssen Anwälte der Freiheit sein

Die christlichen Kirchen Europas haben laut dem Wiener Pastoraltheologen Paul Zulehner angesichts eines heute vielerorts wieder erstarkenden Autoritarismus den Auftrag, Anwälte der Freiheit und der Gerechtigkeit zu sein

Sie sollten Solidarität in der Gesellschaft fördern und so zum Erhalt des Friedens beizutragen, so Zulehner am Montag beim 30. Colloquium Europäischer Pfarrgemeinden im ukrainischen Lwiw (Lemberg). Zulehner knüpfte bei seinem Hauptvortrag zur Versammlung an jene Visionen für Europa an, die Papst Franziskus am 25. November 2014 in seinen Reden vor dem Europarat und dem Europaparlament skizziert hatte.

Die „mühsam errungene Freiheit“ in Europa sah Zulehner aktuell in Gefahr. Trends in Osteuropa zur Abschaffung der liberalen zugunsten einer „illiberalen“ Demokratie deuteten darauf, bei denen statt dem freien Individuum eine ethisch reine, auf dem Christentum beruhende Volksgemeinschaft die Grundlage sei.

Rassistische Tendenzen im Aufwind

Seit Mitte der 1990er-Jahre erhielten zudem auch in westlichen Ländern populistische, nationalistische und rassistische Tendenzen wieder Aufwind. Freiheit werde zunehmend als riskant erlebt, aufgrund u. a. der Überforderung des familiären Systems, aus dem daher viele „Ich-schwache“ Personen hervorkämen, wegen der als unübersichtlich wahrgenommenen Globalisierung und der geschwächten Institutionen.

Der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner

Kathpress/Franz Josef Rupprecht

Der Wiener Theologe Paul Zulehner

Verlässlich und engagiert sollten sich Europas Kirchen als Anwälte für errungene Freiheit einsetzen, so Zulehners Vision. Auf persönlicher Ebene sollte sie dazu familiäre Systeme stärken, die Bürger zum „Risiko der Freiheit“ ermutigen und die Freiheit des Gewissens jedes Menschen hochachten und entfalten. Das gelingeunter anderem auch durch Institutionen wie die Ehe, die die einzelnen Menschen „in ihrer Freiheitszumutung entlaste“ und sie davor bewahre, „vor der zugemuteten Freiheit zu flüchten“.

Schutz der Menschenrechte

Politisch sei hingegen ein „klares Bekenntnis zur freiheitlichen liberalen Demokratie“ nötig, zum Schutz der Menschenrechte wie auch ein Widerstehen der „Versuchung, aus Eigeninteresse politische Parteien und Systeme zu unterstützen, welche den Weg einer illiberalen Demokratie eingeschlagen haben“.

Glaubwürdig seien die Kirchen bei diesem Einsatz nur durch konsequentes Eintreten für die Freiheit und Gerechtigkeit auch in ihren eigenen Reihen, so der emeritierte Wiener Universitätsprofessor weiter: Durch Wertschätzung des Gewissens auch der einzelnen Kirchenmitglieder, durch Anerkennung der Menschenrechte, durch die Praxis der Subsidiarität und Synodalität sowie im Abbau weiter bestehender Diskriminierungen, wobei Zulehner hier als Beispiele die LGBT-Szene und die Frauen nannte.

Ängsten entgegenwirken

Das Eintreten für Freiheit und Solidarität müsse jedoch immer auch deren Gegenspieler im Blick haben, als welchen Zulehner die Angst ausmachte. „Angst entsolidarisiert und macht böse. Unsere Selbstverteidigungsstrategien gegen die Angst heißen Gewalt, Gier und Lüge“, zitierte der Theologe die Tiefenpsychologin Monika Renz.

Aus christlicher Sicht verhindere Angst, „dass Menschen solidarisch und in Gottes absichtsloser Art liebend werden, wozu sie erschaffen wurden“. Die Angst, zu kurz zu kommen oder benachteiligt zu werden, führe zu Abwehr, egoistischen Tendenzen und zu einem „Verlust des Urvertrauens“. Die Freiheit werde „gefesselt“, wobei auch der international aufblühende Nationalismus eine Facette dieser „Politik mit der Angst“ sei.

„Belastbare Solidarität mehren“

Inmitten von „Kulturen der Angst“ sollten die Kirchen „Oasen diffundierenden Vertrauens“ sein, so der Wiener Theologe. Durch ihr Wissen um die Einheit aller in einer Menschheitsfamilie hätten sie eine „solidarisierende Kraft“, könnten - anders als die Politik - eine „universelle Solidarität ohne Obergrenze“ praktizieren und somit auch in der Bevölkerung „belastbare Solidarität mehren“, besonders in den von Papst Franziskus genannten Arbeitsbereichen Ökologie, Migration, Arbeit und Alterseinsamkeit.

Zulehner: „Natürlich ist eine Kirche keine politische Partei. Aber sie ist politisch unweigerlich parteilich. Sie muss zugunsten der Armgemachten und Armgehaltenen ihre Stimme erheben. Denn auch heute schreien diese Arme zum Himmel. Wir wären nicht Gottes Volk, würden wir den Schrei der Armen nicht hören, der in Gottes Ohr dringt.“

Als „Grundhaltung der Christen“ bezeichnete Zulehner die Haltung „Wir schaffen das - zumindest immer mehr, als wir uns selbst zutrauen, weil wir göttlichen Rückenwind verspüren“. Eine Kirche, die sich nicht allein mit der Reform ihrer Struktur beschäftigt sei und nicht nur um sich kreise, sondern sich selbstlos für die Menschen und ihre Ängste und Hoffnungen verausgabe, könne wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen, prophezeite Zulehner. Verwirkliche sie auf diese Weise das Evangelium, trage sie damit auch zu einem „freien, gerechten und friedlichen Europa“ bei und „beseele“ den von Misstrauen und Zerschlagung bedrohten Kontinent dadurch auch wieder.

Suche nach „zeitgemäßem Glaubenszeugnis“

Das „Colloquium Europäischer Pfarrgemeinden“ (CEP), bei dem Zulehner den ersten Hauptvortrag hielt, findet seit 1961 in jeweils einem anderen Land Europas im Zweijahresrhythmus statt. Das Treffen im Zeichen des Erfahrungstausches startete damals unter Patronanz von Kardinal Franz König, anfangs mit Vertretern aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Schweiz und Spanien, und versammelt jedesmal an die 200 Priester und in ihren Pfarren engagierte Laien. Seit 1978 ist das CEP beim Europarat als nichtstaatliche Organisation mit Berater-Status registriert. Ökumenische Kontakte zu anderen christlichen Konfessionen werden gefördert und ausgebaut.

Die diesjährige Begegnung im Lemberger Heiligengeist-Seminar steht unter dem Motto „Wer wird uns helfen, Christ zu sein im Europa von heute? Kann Verschiedenheit uns einen?“ Sie wurde am Wochenende vom griechisch-katholischen Erzbischof von Lemberg, Ihor Wosnjak, und dem aus Malta stammenden CEP-Präsidenten, Pfarrer Antonio Cassar, eröffnet. Das Bestreben richte sich darauf, ein „zeitgemäßes Glaubenszeugnis“ zu geben, erklärte der Vorsitzende der ukrainischen CEP-Sektion, Pfarrer Mychailo Dymyd. Christen müssten den Mut finden, aus ihrem „Schneckenhaus“ herauszukommen und auf andere zuzugehen, „in dem wir einfach als Christen leben“.

Weitere Programmpunkte waren u. a. ein Vortrag der Theologin Halyna Tesljuk zum Gleichnis vom Barmherzigen Vater, Workshops, Besuche der Pfarrgemeinden in der Stadt Lemberg und Umgebung, ein Kulturprogramm und ein „Fest der Nationen“. Das nächste Colloquium findet laut den Organisatoren 2021 in Rumänien statt.

religion.ORF.at/KAP

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