Kirchenhistoriker: Zölibat „Risikofaktor“ bei Missbrauch

Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf sieht im Zölibat einen „Risikofaktor“, in Bezug auf sexuellen Missbrauch. Die Aufhebung des Pflichtzölibats betrachtet Wolf als mit der Tradition der Kirche vereinbar.

Auch wenn ein kausaler Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und der Zölibatspflicht für Priester kaum zu beweisen ist, so gibt es dem Kirchenhistoriker zufolge doch „zahlreiche Argumente“, die den Zölibat als „Risikofaktor“ erscheinen lassen und die für eine Aufhebung des Pflichtzölibats sprechen.

„Wenn die Bischöfe ihre Ankündigungen ernst nehmen, dass es ihnen wirklich um die Opfer und das ihnen von Geistlichen zugefügte Leid geht, dann sind sie verpflichtet, den Zölibat grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen“, betonte Wolf bei einem Vortrag am Dienstagabend in Wien. Zugleich ermutigte Wolf die Teilnehmer der derzeit in Rom tagenden Amazonien-Synode dazu, Schritte in Richtung „viri probati“ zu gehen, da dies mit der kirchlichen Tradition vereinbar sei.

„System Männerkirche“

Wolf war Festredner beim heurigen „dies facultatis“ (Fakultätstag) der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien. Sein Vortrag stand unter dem Titel „MachtMissbrauch im Männerbund. Zur Geschichte der vielleicht tiefsten Krise der katholischen Kirche“. Der „dies facultatis“ markiert den offiziellen Start ins neue Semester. Ihm ging u.a. ein Semestereröffnungsgottesdienst in der Wiener Schottenkirche voraus.

Kirchenhistoriker Hubert Wolf

Katpress/Henning Klingen

Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf sieht eine Aufhebung des Pflichtzölibats vereinbar mit der Kirchentradition

In seinem Vortrag zeichnete Wolf ein umfassendes kirchliches Krisenszenario, in dem eine seines Erachtens nur „halbherzige“ Aufarbeitung des Missbrauchsskandals verbunden mit einer grundsätzlichen Infragestellung von Kirche und einer anhaltenden Austrittsbewegung zu einer „Systemkrise, einer prinzipiellen Anfrage ans System Männerkirche“ führt.

„Herausgehobene Sonderstellung“ von Priestern

Dieser „Männerkirche“ liege ein Priesterbild zugrunde, welches dem Priester gegenüber dem Laien eine „herausgehobene Sonderstellung“ zuspreche und diese u.a. mit dem Zölibat verknüpft. Dies begünstige insgesamt den sexuellen Missbrauch, führte Wolf unter Verweis auf die von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) in Auftrag gegebene Studie „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige“ (MHG-Studie) aus.

Der Pflichtzölibat spiele in diesem System eine wichtige und zugleich fatale Rolle, da er eine „intensive Sozialkontrolle innerhalb der klerikalen Hierarchie“ ermögliche, zu einem „elitären klerikalen Bewusstsein“ führe und auch dazu beitrage, „das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen in der katholischen Kirche zu konsolidieren“. Anders gesagt: Es gebe einen klaren „Zusammenhang zwischen klerikal männerbündischem Kirchensystem, Macht, Missbrauch und Zölibat“.

Sind die 68er schuld? Kritik an Benedikt XVI.

Kritik übte Wolf in diesem Zusammenhang am jüngsten, auf den 11. April dieses Jahres datierenden Aufsatz des emeritierten Papstes Benedikt XVI. zum Thema. Darin hatte Benedikt XVI. u.a. der 68er-Bewegung und der damit verknüpften „Sexuellen Revolution“ die Verantwortung für eine breite Abkehr von der kirchlichen Sexualmoral und in Folge für das Aufkommen „homosexueller Clubs“ in Priesterseminaren und Missbrauchsfällen gegeben.

„Sprache und Argumentation sind sowohl dem Thema als auch insbesondere den Opfern nicht angemessen“, so Wolf dazu. Schließlich zeige ein Blick in die Kirchengeschichte, dass sexueller Missbrauch eine lange Geschichte innerhalb der Kirche habe und tatsächlich „eng mit der Geschichte der herausgehobenen Sonderstellung der priesterlichen Lebensform und damit auch mit der Geschichte des Zölibats verbunden ist.“

Konzil: Zölibat nicht zwingend gefordert

Tatsächlich lehre ein Blick in die Kirchengeschichte darüber hinaus auch, dass der Zölibat keine theologisch zwingend erforderliche priesterliche Lebensweise beschreibt, so Wolf weiter: "Wenn die Amazonas-Synode nach einer gründlichen Güterabwägung die Weihe verheirateter Männer zu Priestern vorschlagen würde, dann stünde sie und Papst Franziskus durchaus auf dem Boden der kirchlichen Tradition.

Niemand, der die Kirchengeschichte ernst nimmt, könnte ihnen einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel oder gar Traditionsbruch vorwerfen." So habe bereits das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) festgehalten, dass der Zölibat „nicht vom Wesen des Priestertums selbst gefordert ist“, zitierte Wolf aus dem Konzils-Dekret „Presbyterorum Ordinis“.

Ein Blick auf die gelebte ostkirchliche und vor allem auf die östliche katholische Kirche zeige, dass verheiratete und nicht-verheiratete Priester „parallel in der einen Kirche ohne Einschränkung tätig sein konnten und können“.

„Zölibatspflicht nicht verklären“

Wer daher tatsächlich auf eine Reform der katholischen Kirche dränge, der müsse „das klerikale System insgesamt infrage stellen“ und dürfe dieses samt Zölibatspflicht „nicht zur notwendigen und unveränderlichen Gestalt der katholischen Kirche verklären“, so der Kirchenhistoriker abschließend.

Eckpunkte einer solchen Reform würden neben der Infragestellung des Zölibats etwa in der Schaffung „transparenter und gerechter Strukturen“ bestehen sowie in „einklagbaren Grundrechten für alle Christen“ und somit in einer modernen Rechtskultur, einer „unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit, einer zeitgemäßen Sexualmoral, der Gleichberechtigung von Frauen und der Auswahl kirchlicher Amtsträger auf allen Ebenen durch die Gläubigen“.

An der Festveranstaltung im Großen Festsaal der Universität nahmen u.a. der Wiener Generalvikar Nikolaus Krasa, die evangelische Oberkirchenrätin Ingrid Bachler, der Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdischen Zusammenarbeit, Martin Jäggle, sowie der frühere Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ), Anas Schakfeh.

religion.ORF.at/KAP

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