Studie: Religiöse Menschen gelassener in Krise

Der Wiener Theologe und Religionssoziologe Paul M. Zulehner veröffentlichte kürzlich die Langzeitstudie „Religion im Leben der Österreicher*innen 1970-2020“. Das Coronavirus könne eine „Heidenangst“ auslösen, religiös Verwurzelte seien gelassener.

Es ist für die Wahrnehmung der Wirklichkeit nicht unerheblich, ob man an ein Leben nach dem Tod glaubt oder nicht - „Sterbliche“ und „Unsterbliche“ sehen die Wirklichkeit durchaus unterschiedlich. Das ist eines der markantesten Ergebnisse der vom Wiener Theologen und Religionssoziologen Paul Zulehner jetzt in Buchform („Wandlung“, Grünewald-Verlag 2020) veröffentlichten Langzeitstudie „Religion im Leben der Österreicher*innen 1970-2020“.

Für die aktuelle Coronavirus-Krise bedeutet dies nach den Worten des Autors: „Für die einen kann die unerwartete Provokation durch das gesichtslose Virus eine ‚Heidenangst‘ auslösen. Wirklich fest in der Religion Verwurzelte könnten gelassener bleiben.“

Glaube und Wissenschaft verlieren Kraft

Allerdings zeige der Vergleich der seit den 1970er-Jahren im Zehnjahresrhythmus gesammelten Umfragedaten, „dass die Wirkmächtigkeit der Religion sich im letzten halben Jahrhundert deutlich abgeschwächt hat“, wie Zulehner gegenüber Kathpress darlegte. So habe der Austausch mit einer sonntäglichen Feiergemeinde von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr abgenommen.

Paul Michael Zulehner

ORF/Cinevision

Der Theologe und Religionssoziologe Paul M. Zulehner veröffentlichte kürzlich die Ergebnisse einer 50 Jahre dauernden Studie in Buchform.

Damit sei die tröstende Kraft der Religion geschwächt worden; zugleich könne in der gegenwärtig so bedrängten Zeit aber auch der unbekümmerte Glaube an die Wissenschaft schwächer werden. „Unsicherheit nimmt sowohl der Wissenschaft wie dem Glauben an Kraft“, sagte der Theologe. Das schaffe Raum für „irrationale Panik und unkontrollierbare Angst“, was wiederum entsolidarisierend wirke.

Viel Solidarität vorhanden

Zugleich zeigten sich in letzter Zeit viele überraschende Projekte der Solidarität, vor allem, aber nicht nur bei Jüngeren, wie Zulehner anmerkte: „Der Vorrat an Solidarität und in diesem Sinn an dem, was das Evangelium letztlich fördern will - nämlich handfest liebende Menschen, scheint also größer sein, als im Normalbetrieb unserer Gesellschaft sichtbar wird.“

Dies sollte die heimische Politik nach Ansicht Zulehners ermutigen, auf diesen Vorrat auch angesichts anderer Herausforderungen stärker zu setzen, etwa bei der Aufnahme schutzsuchender unbegleiteter Kinder aus den griechischen Lagern.

„Unsterbliche“ sind solidarischer

Was unterscheidet nun die beiden Gruppen der Säkularen bzw. „Sterblichen“ von den Religiösen bzw. „Unsterblichen“, denen Zulehner mit den „religiös bzw. skeptischen Verunsicherten“ noch eine dritte Mittelgruppe der „Etwasisten“ zugesellt, die überzeugt sind, dass es über diese Welt hinaus „etwas gibt“? Menschen mit Diesseitsgrenzen überschreitenden Überzeugungen sind tendenziell solidarischer, wie der Religionssoziologe anhand der Zustimmung zu Sätzen wie „Einkommensunterschiede sollten verringert werden“ oder „Das Wichtigste, was Kinder lernen müssen, ist das Teilen“ interpretiert.

Buchhinweis

Paul M. Zulehner, „Wandlung. Ergebnisse der Langzeitstudie Religion im Leben der Österreicher*innen 1970-2020“, Matthias-Grünewald-Verlag, 32,90 Euro.

Die Befragten mit „enger“ Wirklichkeitsreichweite seien in Gefahr, die anderen - Nachbarn, Fremde, Migranten - als Rivalen ihres erstrebten maßlosen Glücks in begrenzter Lebenszeit zu erleben, erklärte Zulehner. In dieser Gruppe seien somit „deutlich mehr sehr Unsolidarische (25 Prozent) als unter den ‚Weiten‘ anzutreffen“.

Säkulare Menschen „liberaler“

Wie sehr sich die jeweilige „Wirklichkeitskonstruktion“ auf gesellschaftspolitische Optionen auswirkt, kann laut Zulehner auch am Beispiel des Ringens um „humanes Sterben“ gezeigt werden. Der Aussage „Es sollte möglich sein, das Leben von Menschen in der letzten Lebensphase aktiv zu beenden“ stimmen 86 Prozent der Säkularen „grundsätzlich“ (36 Prozent) bzw. „unter bestimmten Umständen“ (50 Prozent) zu; von den Religiösen tun dies nur 8 bzw. 39 Prozent und lehnen damit mehrheitlich eine straffreie aktive Sterbehilfe ab.

„Liberaler“ sind die Säkularen auch beim Eheverständnis: Zwei Drittel von ihnen wollen kirchliche Trauungen „für jede Art von Liebesbeziehungen“, 18 Prozent nur für Paare, die für Kinder offen sind. Anders bei den Religiösen: 42 Prozent plädieren für die Ehe für alle, 50 Prozent nur für fortpflanzungswillige Paare. Dass es für eine Liebesbeziehung gar keinen Beistand der Kirche braucht, meinen - wenig erstaunlich - 60 Prozent der Säkularen, aber nur 23 Prozent der Religiösen.

Religion kein „Opium des Volkes“

Die vorliegenden Daten räumen laut Zulehner gründlich mit der „religionskritischen Mär“ auf, dass die „Unsterblichen“ tendenziell „Jenseitsflüchter“ sind und an einer Veränderung der Welt in Richtung Gerechtigkeit uninteressiert sind. Das marxistische Diktum über Religion als „Opium des Volkes“ treffe trotz manch unleugbarer historischer Jenseitsvertröstung im Christentum nicht zu.

Und hinsichtlich der hohen Wertschätzung für die Wissenschaft gibt es zwischen „Sterblichen“ und „Unsterblichen“ keinen Unterschied: für jeweils neun von zehn Befragten ist die Wissenschaft Teil ihres „Glaubenshauses“, wie Zulehner festhält. Kaum nennenswerte Unterschiede gibt es auch hinsichtlich des hohen Stellenwerts von Gesundheit, Freundschaften, Weiterbildung, beruflichem Erfolg und Freizeit. Markante Differenzen bestehen jedoch bei den Einstellungen zu Gott, zur Seele und zu Glaubensüberzeugungen wie Auferstehung, Gebetswirksamkeit oder Himmel/Hölle.

„Alte Rituale“ wieder gefragt

Die Studie zeigt nach den Worten Zulehners freilich auch, „dass für viele Menschen die alten Rituale in dichten Lebenszeiten sehr wichtig sind, ob freudig oder bedrängend“. Das sollte auch in der Coronazeit nicht übersehen werden, so der Theologe: „Vielleicht suchen derzeit manche insgeheim den bergenden Raum einer hoffentlich offenen Kirche auf und nehmen das Gefühl mit, in einer größeren Wirklichkeit geborgen zu sein.“

„Sterbliche“ konstant

Zur quantitativen Aufteilung der 2020 in Österreich Befragten schreibt Zulehner, 29 Prozent seien den „Sterblichen“ zuzurechnen, 23 Prozent den „Unsterblichen“ und 48 den diesbezüglichen Skeptikern. Deutlich mehr Männer (36 Prozent) als Frauen (23 Prozent) lebten in einer „stringent engen Welt“, auch Jüngere, Kinderlose und Höhergebildete seien eher „verdiesseitigt“.

Der Anteil der „Sterblichen“ sei im Kern im letzten halben Jahrhundert in der Bevölkerung relativ stabil geblieben, erklärte Zulehner. Im Umkreis der „Unsterblichen“ hingegen seien die christlich geprägten mit kirchlich überlieferten Glaubensüberzeugungen merklich weniger geworden.

Mehr Skeptiker

„Irgendetwas muss es ja geben“, sonst ließe sich die Schöpfung nicht erklären und auch nicht das Gewissen der Menschen: Diese eher beliebig-vage Haltung kennzeichnet Zulehner die überwiegende Glaubensüberzeugung der Österreicher. Aus der 1970 noch zahlenmäßig stärksten Gruppe der Christgläubigen werden zunehmend skeptische „Etwasisten“. Eine weitere leicht, aber kontinuierlich wachsende Gruppe bilden jene, die an kein Weiterleben nach dem Tod glauben. Und bei allen Gruppen nimmt die Bedeutung der Kirchen ab.

„Aus dem Gott Jesu wird der Gott der Philosophen, der Aufklärer und Freidenker“, erklärt Zulehner. Zentrale christliche Glaubensinhalte wie ein persönlicher, im Gebet ansprechbarer Gott, die Auferstehung, Himmel und Hölle werden von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger geglaubt; zur Aussage „es ist mir gleichgültig, ob es Gott gibt“ bekannten sich 1970 nur acht Prozent der Befragten, 1990 zwölf und aktuell 21 Prozent.

„Kirche hat unter 30-jährige Frauen verloren“

Eine besondere „Problemgruppe“ aus kirchlicher Sicht: junge Frauen. Sie sind nach Zulehners Diagnose „besonders stark irritiert“ durch den Widerspruch zwischen den „kulturell inzwischen selbstverständlich gewordenen Ansprüchen auf Gleichwertigkeit und Beteiligung“ und der Haltung der Kirche, die sie - „trotz ausgeklügelter Gegenargumente der Kirchenleitung“ - als diskriminierend erlebten.

„Die katholische Kirche hat die unter 30jährigen Frauen inzwischen nahezu gänzlich verloren“, so der Religionssoziologe fernab jeder Beschönigung. „Gerade moderne Frauen tun sich mit der Kirche schwer“ - dem stimmen quer durch die Altersgruppen mehrheitlich alle Frauen zu, bei den 70-79-Jährigen gleich viele wie bei den unter-19-Jährigen.

religion.ORF.at/KAP