Die Helden des letzten Wegs

Zu den schwersten Entscheidungen in der Coronavirus-Krise zählt jene zwischen Sicherheit und würdiger Sterbebegleitung. Oft führt diese Entscheidung auch für die Menschen, die Kranke und Sterbende auf ihrem letzten Weg begleiten, zum Tod.

Wie dieser schmale Grat tagtäglich beschritten wird und welche Maßnahmen dabei helfen könnten, erläuterte Sigrid Müller, Professorin am Institut für Systematische Theologie und Ethik an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien, im Gespräch mit religion.ORF.at. „Die Grenze liegt sicher dort, wo das Verhältnis zwischen Gefährdung und Nutzen unverhältnismäßig ist“, so die Theologin.

Im von der Pandemie besonders hart getroffenen Italien sind laut Medienberichten bisher mehr als 100 Priester an Covid-19 gestorben. Noch nicht mitgezählt sind hier die verstorbenen Ordensschwestern, Diakone und Missionare. Berichten italienischer Zeitungen zufolge stammen die Priester aus allen Landesteilen, sie waren zwischen 45 und 100 Jahre alt. Die meisten waren selbst Angehörige der Risikogruppe - dennoch gingen sie weiter zu Kranken. Papst Franziskus selbst hatte Anfang März die Priester dazu aufgerufen, den Kranken beizustehen und sie auch zu besuchen.

Intensivstation im San Raffaele Spital in Mailand, Italien, März 2020

Reuters/Flavio Lo Scalzo

Intensivstation im Spital San Raffaele in Mailand, Italien, März 2020

Priester „mit den Sterbenden gestorben“

Diese Priester „haben in seelsorgerlicher Hingabe so gehandelt, und das verdient Respekt“, sagte Müller. Die hohe Todesrate gerade unter italienischen Priestern sei wahrscheinlich den besonders ungünstigen Umständen zu verdanken. „Sie sind praktisch mit den Sterbenden gestorben.“ Unkenntnis über geeignete Schutzmaßnahmen beziehungsweise ein Mangel an Schutzkleidung und die Enge in den überfüllten Spitälern hätten wohl zu den vielen Todesfällen geführt. Aus ethischer Sicht sei es aber auch wichtig, „sich selbst zu schützen“ - und damit auch wieder andere Menschen vor Ansteckung zu bewahren.

Sigrid Müller, Professorin für Institut für Systematische Theologie und Ethik an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien

Universität Wien/Joseph Krpelan

Sigrid Müller ist Professorin am Institut für Systematische Theologie und Ethik an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien. Von 2012 bis 2018 war sie Dekanin der Fakultät. Müller ist Mitglied der Ethikkommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Man müsse im Einzelfall prüfen, „ob das gute Ziel, nämlich Menschen zu begleiten, auch anders erfolgen kann“, also etwa via Telefon, Computer, Radiosendungen etc. zu kommunizieren, wenn ein hohes Risiko bestehe, andere zu gefährden. „Auf der anderen Seite gibt es eine Grenze: Es muss sichergestellt sein, dass keine Person, die dringend Hilfe braucht, ohne Unterstützung bleibt“, argumentierte Müller.

Hier sieht die Moraltheologin „eine schmerzliche Lücke": Wenn es in den Krankenhäusern und Altersheimen fest installierte, ausgebildete Seelsorgerinnen und Seelsorger sowie Spiritual-Care-Personen gäbe, könnten diese sich als Teil des Systems um Bedürftige kümmern“, so die Theologin. Zwar gibt es das fallweise bereits, wie etwa im Wiener AKH - mehr dazu in CoV: Spitalsseelsorger in ethischem Dilemma, aber „nicht flächendeckend“, wie das etwa in Deutschland der Fall sei, so Müller. Dort gehören Krankenhausseelsorger zum Team, sie befinden sich „gerade in Krisensituationen innerhalb des Systems“.

Sonderlösung für Sterbende finden

Als besonders schmerzlich empfinden derzeit viele, dass auch schwer Erkrankte und Menschen, die - ob nun durch Covid-19 oder eine andere Erkrankung - im Sterben liegen, allein sind. Hier müssten „Ärztinnen und Ärzte mit den Angehörigen überlegen, ob es bei manchen Patientinnen und Patienten, die im Sterben liegen, möglich ist, sie nach Hause zu entlassen, damit zumindest eine angehörige Person bei ihnen sein kann“, schlug Müller vor. Es komme hier sehr darauf an, in welcher Verfassung sich die Sterbenden befinden.

Im Fall von Menschen, die nicht mehr bei Bewusstsein sind, könne „eine Verbundenheit im Gebet und inneres Begleiten eine gute Alternative“ sein, „auch wenn es einen menschlich schmerzt, dass der geliebte Mensch alleine stirbt und man nicht bei ihm sein kann“. Müller fände hier eine getrennt zugängliche Kapelle hilfreich sowie die Anwesenheit eines Seelsorgers oder einer Seelsorgerin, welche die Trauernden begleiten könnte.

Übergangszonen schaffen

Innerhalb der Spitäler und Einrichtungen könnte man „Übergangszonen“ definieren, wo Besuche möglich wären, und diese Besuche auf eine Person eingrenzen. Natürlich hätten gerade jetzt die Krankenhäuser einen sehr hohen organisatorischen Aufwand, dabei zu wenige Schutzanzüge, und Ressourcen würden für die Intensivstationen gebraucht. Aber bei alldem müsse man aufpassen, „dass wir vor lauter Schutzmaßnahmen nicht die Menschlichkeit aus den Augen verlieren“, sagte die Theologin.

Der heilige Karl Borromäus in der Wiener Karlskirche, von Johann Michael Rottmayr (1714)

Public Domain/Wikipedia

Gemälde des heiligen Karl Borromäus in der Wiener Karlskirche, von Johann Michael Rottmayr (1714)

Auf die Frage, ob es denkbar sei, dass Papst Franziskus die (derzeit) hundert verstorbenen Priester seligsprechen werde, antwortete Müller, das könne sie sich gut vorstellen. Vorbilder gebe es, etwa den heiligen Karl Borromäus (Carlo Borromeo, 1538 bis 1584), der an der Pest starb, nachdem er sich um Kranke gekümmert hatte. Aber man müsse hier auf die „Vorbildwirkung“ achten, so die Theologin, und „aufpassen, dass das nicht falsch rüberkommt“. Denn der eigene Schutz sei auch wichtig. Außerdem müsse man dann auch Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal und Angehörige ehren.

Todes- in Auferstehungserfahrung überführen

„Aus der Bibel wissen wir: Seuchen sind schrecklich, aber sie können auch neues Denken hervorbringen, gleichsam die Todeserfahrung in eine Auferstehungserfahrung überführen“, so Müller. Die Coronavirus-Krise zeige „die Situation unserer Welt wie in einem Brennglas. Wir sehen auf einmal, wo Ungerechtigkeit herrscht: Menschen, die von der Hand in den Mund leben, müssen jetzt hungern, weil sie ihr täglich Brot nicht verdienen können. Menschen ohne Gesundheitsversicherung und Gesundheitsversorgung haben weniger Überlebenschancen.“

Doch gebe es auch viel Gutes: „Wie viele Betriebe durch ihren Einsatz Menschen Arbeit geben und für Einkommen sorgen, und die hohe Hilfsbereitschaft der Menschen, die sich freiwillig für andere engagieren. Die über die Medien vermittelte Erfahrung, dass wir doch alle auf der ganzen Welt von derselben Situation erschüttert werden, zeigt, dass Mitmenschlichkeit und eine globale Solidarität das sind, was den Menschen wirklich ausmacht, wozu wir Menschen gerufen sind“, sagte die Theologin. Nicht nur in Zeiten des Coronavirus.

Johanna Grillmayer, religion.ORF.at

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