Kirchen debattieren über Grundeinkommen

Anlässlich der Coronavirus-Krise und der einhergehenden wirtschaftlichen Entwicklung wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln über ein Grundeinkommen diskutiert. Auch die Kirchen und christliche Organisationen beschäftigt das Thema.

Die Zahl der Menschen, die in Österreich bei Organisationen wie der Caritas Hilfe suchen, hat sich verdoppelt. Mehr als 522.000 Personen sind arbeitslos. Rechnet man die in Schulung Befindlichen dazu, sind es mehr als 571.000. Über eine Million Erwerbstätige befinden sich in Kurzarbeit. Schon vor der aktuellen Krise nahm die Zahl derer, die trotz Erwerbsarbeit kaum oder nicht genug Geld zum Leben haben, zu.

Wegen der trüben Wirtschaftsaussichten und der fortschreitenden Technologisierung muss überlegt werden, wie künftig das (Über-)Leben der Bevölkerung gesichert werden kann. Eine Möglichkeit wäre, allen monatlich eine Summe zur Verfügung zu stellen, die die Existenz sichert. Konzepte dazu gibt es einige, u. a. ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) für alle, unabhängig davon, ob oder wie viel sie arbeiten.

Sechs Prinzipien der christlichen Soziallehre

Sogar im Vatikan beschäftigt man sich mit dem Thema. Papst Franziskus und ein ranghoher vatikanischer Sozialexperte forderten bereits ein Grundeinkommen - für Menschen in prekären Verhältnissen. Die Sozialethikerin und Direktorin der katholischen Sozialakademie (ksoe), Magdalena Holztrattner, sieht in einem bedingungslosen Grundeinkommen angesichts der Coronavirus-Krise einen vielversprechenden sozial- und wirtschaftspolitischen Denkansatz, wie sie Kathpress sagte.

Eine Puppenfamilie auf Münzen und Geldscheinen

APA/dpa/Andreas Gebert

Über ein bedingungsloses Grundeinkommen wird derzeit viel diskutiert

Aus christlicher Perspektive stützt man sich auf die christliche Soziallehre oder Sozialethik. Sie hat das gute Zusammenleben aller Menschen zum Ziel. Sechs Prinzipien gehören dazu: Gemeinwohl, Solidarität, Gerechtigkeit, Menschenwürde, Nachhaltigkeit und Subsidiarität (Strukturen, die den Menschen ermöglichen, sich selbst weiterzuentwickeln - Bsp. Schulen). Im Zentrum steht dabei immer der Mensch.

Keine vollen „sozialen Hängematten“

Dass ein BGE die „sozialen Hängematten“ befüllen würde, bezweifelte die ksoe-Direktorin. Menschen seien von Natur aus keine untätigen Wesen. Das zeige das hohe Engagement im - meist unbezahlten - Care-Sektor. Sie betonte auch die Wichtigkeit von Auszeiten, weil Stress, Druck oder schlechte Arbeitsbedingungen zu Krankheiten führten, die auch volkswirtschaftliche Folgen hätten.

Aus Prognosen im Fall eines bedingungslosen Grundeinkommens können fast alle Szenarien herausgelesen werden: Von der guten persönlichen Entwicklungsmöglichkeit der Einzelnen, besseren Arbeitsbedingungen (weil Unternehmen sich mehr um die Arbeitskräfte bemühen müssen) und wirtschaftlich besserer Ausgeglichenheit bis zu Warnungen vor dem Einbruch der Wirtschaft (wenn zu viele Menschen sich mit dem Grundeinkommen begnügen würden), sozialer Isolation und Unternehmen, die sich der sozialen Verantwortung entziehen, weil die Grundbedürfnisse schon abgedeckt sind.

Ökonom: Wirtschaftssystem müsste sich ändern

Der Ökonom und Mitbegründer der Initiative „Christlich geht anders“, Stephan Schulmeister, zeigte sich gegenüber religion.ORF.at eher skeptisch, was ein BGE betrifft. Denn dieses würde das derzeitige Wirtschaftssystem nicht verändern. Das müsste es aber, um soziale Ungerechtigkeiten und Armut zu bekämpfen. Man müsse sich vom Wachstumsparadigma verabschieden, so Schulmeister, und den Finanzkapitalismus überwinden.

Ohne eine grundsätzliche Änderung des Umgangs mit der Natur und des Verhältnisses zwischen Unternehmen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bringt seiner Ansicht nach auch ein BGE nicht die gewünschten Erfolge. Es wäre nur die „zweit- oder drittbeste“ Lösung. Eine zentrale Frage sei auch, ob der Sozialstaat aufrechterhalten bliebe oder nicht.

Manche Modelle ersetzen durch das Grundeinkommen alle anderen staatlichen Leistungen, wie zum Beispiel Schulen und die Krankenversicherung. Diese Variante wäre für die meisten Menschen eine Verschlechterung, diese Leistungen würden privatisiert.

Unterschiedliche Modelle

Aus Sicht der Politikwissenschaftlerin und Soziologin Margit Appel, die an der ksoe tätig ist, ist klar, dass der Sozialstaat erhalten bleiben und ein bedingungsloses Grundeinkommen zusätzlich ausbezahlt werden muss, wie sie in einem „Falter“-Podcast zum Thema Grundeinkommen betonte.

Martin Schenk, Sozialexperte, stellvertretender Direktor der Diakonie Österreich (Hilfswerk der evangelischen Kirche) und Mitglied der Armutskonferenz, sagte zu religion.ORF.at, dass von evangelischer Seite verschiedene Modelle zur Armutsbekämpfung beurteilt würden. Dazu gehörten Grundeinkommen, Basislohn, bedarfsorientierte Grundsicherung und Mindestsicherung bzw. Sozialhilfe.

„Es geht nicht nur um die Verteilung von Geld“

In einem Beitrag für die Armutskonferenz betonte Schenk, dass es nicht nur um die Verteilung von Geld, sondern auch um die von Lebensqualität, Wohlbefinden, Chancen, Anerkennung, Gesundheit und Lebenserwartung gehe. „Armut ist ein Mangel an Verwirklichungschancen“, so Schenk. Die Armutskonferenz ist ein Netzwerk, in dem zahlreiche religiöse und soziale Organisationen vertreten sind.

International haben Experimente gezeigt, dass sich für Menschen, die ein Grundeinkommen erhielten, nicht nur die Lebenssituation entspannte, sondern vor allem Perspektiven entstanden. Kriminalität und Gesundheitsausgaben sanken, die Schulleistung der Kinder stieg, es blieb mehr Zeit für die Familie. Wer permanent unter Druck steht und um die Existenz kämpft, hat keine Kapazitäten, sich an größere Projekte zu wagen. „Armut ist kein Mangel an Charakter, sondern der Mangel an Geld“, fasst der Historiker Rutger Bregman zusammen.

Das ökumenische Sozialwort

Im Christentum hat Arbeit einen hohen Stellenwert, zugleich wird das gute Leben für alle propagiert. Wie genau das erreicht werden kann, ob mit BGE oder anderen Instrumenten, lässt sich noch nicht sagen. Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRKÖ) veröffentlichte bereits 2003, knapp zwei Jahre nach der Einführung des Euro in Österreich, ein „Sozialwort“, in dem die 14 Mitgliedskirchen (mittlerweile sind 16 im ÖRKÖ vertreten) die christlichen Standpunkte zu den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialpolitischen Herausforderungen darlegten. Damals wurde schon die Diskussion über ein Grundeinkommen erwähnt.

Neben den Aufgaben, zu denen sich die Kirchen bekennen, wird auch festgehalten, dass die Aufgabe des Staates sei, durch eine „entsprechende Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik die Voraussetzungen für ein ausreichendes Angebot von Arbeitsplätzen zu schaffen“. Darüber hinaus brauche es Weiterbildungsangebote und „eine den Lebensbedarf abdeckende Existenzsicherung in der Zeit der Erwerbslosigkeit, um das Recht auf Arbeit und soziale Sicherheit zu verwirklichen“.

Einkommen, Selbstwert, soziale Sicherheit

„Aus den vielen Erfahrungen mit Arbeitslosen wissen die Kirchen, dass die meisten Menschen arbeiten wollen und dringend nach einer Arbeit suchen, die ihnen Einkommen, Selbstwert und soziale Sicherheit vermittelt“, so der ÖRKÖ. Wenn nicht alle mit Arbeit, von der sie gut leben können, versorgt werden können, müssen andere Ideen entwickelt werden.

Nina Goldmann, religion.ORF.at

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