„Frattelli Tutti“

Papst-Enzyklika anerkennt Menschenwürde

Neben Freiheit und Gleichheit stellt Geschwisterlichkeit den dritten Pfeiler der politischen Ordnung dar: Diese Grundlagen in der sozialen Freundschaft zu betonen, ist nach Einschätzung der Wiener Sozialethikerin Ingeborg Gabriel „Ziel und Vorzug“ der neuen päpstlichen Sozialenzyklika „Fratelli tutti“.

Der Tenor des Schreibens sei angesichts einer Weltordnung, die zunehmend unter den Druck politischer und nationalistischer Sonderinteressen gerate, „ernst“ ausgefallen, sagte Gabriel am Sonntag auf Anfrage der katholischen Nachrichtenagentur Kathpress. Die „universale Anerkennung der Würde aller Brüder und Schwestern durch sozial gerechtes Handeln“, persönliche Begegnung und Dialog, auch in der Politik, seien die Zentralthemen, die der Papst in den acht Kapiteln des Rundschreibens entfalte.

Gabriel erinnerte daran, dass das neue Papstschreiben seinen Anstoß in der im Vorjahr von Papst Franziskus und Al-Azhar-Großimam Ahmed al-Tayyeb in Abu Dhabi unterzeichneten Dokument über universale Brüderlichkeit habe.

Für globales Gemeinwohl

Dem Glauben an den gemeinsamen Weg der Menschheit in Frieden, in der in Liebe wurzelnder Gerechtigkeit und in der Bereitschaft zur Versöhnung und Gewaltfreiheit trotz unterschiedlicher religiöser Überzeugungen stehe heute eine allgegenwärtige Abnahme zu politischer Kooperationsbereitschaft aufgrund nationalistischer Tendenzen und zunehmender Geschichtsvergessenheit entgegen, die zu Resignation und Hoffnungslosigkeit führen.

In dieser Situation brauche daher vor allem langfristige Perspektiven eines globalen Gemeinwohls, die von unten her, durch jeden einzelnen, durch universale Solidarität kultiviert werden müssen, fasste die Sozialethikerin Grundaussagen der Enzyklika zusammen.

Scharfe Kritik an Wirtschaftsordnung

Ausdrücklich kritisiere der Papst die mangelnde universale Realisierung der Menschenrechte, „vor allem der sozialen Rechte, der Frauenrechte und der Religionsfreiheit, sowie Formen moderner Sklaverei“, wies Gabriel hin. Einen Schwerpunkt des gesamten Schreibens bilde zudem der Aufruf zu menschenwürdigen Bedingungen von Migration, die international zu regeln seien.

Sozialethikerin Ingeborg Gabriel
kathbild/Franz Josef Rupprecht
Ingeborg Gabriel

Darüber hinaus finde sich an einigen Stellen des Dokuments wie schon in anderen päpstlichen Schreiben eine scharfe Kritik einer liberalistischen Wirtschaftsordnung, die „die Interdependenz aller und die Mitverantwortlichkeit nicht anerkennt“, zitierte Gabriel aus der Enzyklika. Diese zu erreichen sei für Franziskus aber „Ziel verantwortlicher Politik“, so die Sozialethikerin.

„In diesem Sinne würdigt der Papst die Vereinten Nationen sowie die Bemühungen der internationalen Zivilgesellschaft und ruft, wie schon in Laudato si’, zu umfassenden Dialogbemühungen, einem achtungsvollen Austausch von Meinungen in der gemeinsamen Suche nach dem Richtigen und Guten auf, deren Ziel Friede und Versöhnung sind.“ Nachsatz der Wissenschaftlerin: „Ich hätte mir vor diesem Hintergrund eine stärkere institutionenethische Fundierung der Enzyklika gewünscht.“

Deutsche Stimmen: Enzyklika ist Weckruf

Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, sieht die neue Sozialenzyklika von Papst Franziskus als „Weckruf“. Das Lehrschreiben sei „ein eindringlicher Appell für weltweite Solidarität und internationale Zusammenarbeit“, sagte Bätzing am Sonntag.

Im Kern gehe es um die Würde des Menschen, die sich aus der Gottesebenbildlichkeit begründe, so Bätzing. Franziskus wende sich gegen nationale Abschottung und rege eine „Ethik der internationalen Beziehungen“ an. Eindrucksvoll sei, dass der Papst trotz einer „teilweise mit harten Worten formulierten Analyse der Welt“ die Hoffnung nicht verliere.

Ein „echter und aufrichtiger Dialog“ sei auch für die Kirche in Deutschland auf dem Synodalen Weg die Richtschnur, sagte der Bischofskonferenz-Vorsitzende. Die Kirche stehe zudem in der Pflicht, sich in gesellschaftliche und politische Diskussionen sowie Entscheidungsprozesse einzubringen.

Marx: Enzyklika zur rechten Zeit

Kardinal Reinhard Marx nannte die neue Enzyklika einen hochaktuellen und bedeutsamen Text „zur rechten Zeit“. Er sei dankbar, dass Papst Franziskus seine Stimme so deutlich erhebe, „um den Beitrag der Kirche, ja aller Religionen, zur Lösung der aktuellen Krisen, die unsere Welt erschüttern, einzufordern und einzubringen“, erklärte der Münchner Erzbischof.

Marx betonte, der Papst analysiere klar, dass die Coronavirus-Pandemie viele falsche Sicherheiten offengelegt habe. So grenze sich Franziskus von den scheinbar verlockenden ideologischen Antworten von Nationalismus, Populismus und Rassismus ab. Zugleich wiederhole er seine Mahnung, keine neuen Grenzen und Mauern zwischen Menschen und Völkern zu errichten.

Hilfswerke: Papst stärkt Kampf um Menschenrechte

Kirchliche Hilfswerke werteten die Enzyklika als Rückendeckung für Menschen, die gegen nationale Alleingänge und ein allein an Profit und Wachstum orientiertes Wirtschaftssystem kämpfen. Die Enzyklika sei eine konkrete Handlungsanweisung für eine globale Neuorientierung, erklärte das deutsche katholische Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat.

Das katholische Entwicklungshilfswerk Misereor erklärte, die Enzyklika unterstütze alle, die sich jenseits von Religions- und Landesgrenzen für den Erhalt der Schöpfung einsetzten und Menschenrechtsverletzungen anprangerten. „Angesichts der aktuellen weltpolitischen Situation mit existenziellen Krisen wie dem Klimanotstand, brennenden Regenwäldern, 690 Millionen chronisch Hungernden, schutzlosen Geflüchteten und der die weltweiten Missstände nochmals offenlegenden Corona-Pandemie kommt die Enzyklika mehr als zur rechten Zeit“, sagte Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel.

Wir sind Kirche: Visionäres Rundschreiben

Die Initiative „Wir sind Kirche“ in Deutschland sprach von einem visionären Rundschreiben. „Es ist ein grundlegendes Umsteuern notwendig“. Das gelte für die Politik, aber auch für Religionen. Auch in der Lehre der katholischen Kirche sei ein Handlungswechsel nötig – etwa mit Blick auf die Rolle der Frauen, denen der Papst die gleiche Würde und die gleichen Rechte zuschreibe.

Aus Sicht der Stiftung Weltethos liegt die Enzyklika „ganz auf der Linie“ des vom Schweizer Theologen Hans Küng 1990 initiierten Projektes. Die Ausführungen zu gleichen Rechten und Pflichten aller, die Kritik an den Auswüchsen globaler Wirtschaft und das Plädoyer für eine dialogfähige und von Werten getragene Weltordnung erinnerten an Kernanliegen des Projekts, erklärte der Generalsekretär der Stiftung, Stephan Schlensog. Franziskus sehe die Religionen im Dienst an der „Geschwisterlichkeit in der Welt“.